Es gibt viel zu tun (19. 10. 2003)

Liebe Freunde und Verwandte,

morgen ist es wieder einmal so weit: Ein neues Semester beginnt, inzwischen das fünfte. Dabei sehe ich mich vor größere Herausforderungen gestellt als im bisherigen Verlauf meines Studiums - und nebenbei gibt es auch noch etwas Physik zu lernen. Was das zu bedeuten hat, siehe weiter unten. Doch zunächst ein kleiner Überblick über große Ereignisse der VfZ.

Zunächst einmal das wohl wichtigste Ereignis: Die Matheprüfung. Es war eine abenteuerliche Reise von differenzierbaren Funktionen und Lagrange-Multiplikatoren über Fouriertransformation bis hin zu Mannigfaltigkeiten und Differentialformen. Kurz gesagt, wurde ich über alles ausgefragt, das für einen theoretischen / mathematischen Physiker im entferntesten von Bedeutung sein könnte. Mit dem Bestehen dieser Prüfung besitze ich nun das Vordiplom, der erste Schritt auf dem Weg zum Physiker.

Genau genommen hatte ich mir das Vordiplom noch nicht ganz verdient. Für die Zulassung zur letzen Vordiplomsprüfung sind nämlich die beiden Anfängerpraktika erforderlich, von denen ich das zweite nur zum Teil absolviert hatte. Im September hatte ich dann Gelegenheit, die restlichen Versuche in rollstuhlzugänglichen Räumen durchzuführen - auf dem DESY-Gelände, auf dem ich mich inzwischen so heimisch fühle wie einst auf dem Gang vor dem Eingang zum Physik-Trakt des Ratsgymnasiums. Die Versuche waren wie immer spannend: Drei Elektronik-(Löt-)versuche eforderten ruhige Hände. Als das selbstgebaute Netzteil Spannung lieferte, der selbstgebaute Verstärker ein Signal verstärkte und die selbstgebaute Kippstufe blinkte, war das Ziel erreicht. Es folgten drei Optikversuche. Die Messung verschiedener Spektren (Alkalimetalle als Salze in eine Flamme gegeben, Helium- und Wasserstofflampe, durchleuchtete farbige Gläser...) mit einem Prismenspektrometer war schnell zu erledigen. Die Messung des Brechungsindex eines solchen Prismas war schon aufwendiger. Schließlich wurde mit einem Gitterspektrometer das Wasserstoffspektrum vermessen und mit der berühmten Theorie verglichen - natürlich mit Übereinstimmung. Zum Abschluß gab es noch etwas Atomphysik und Mechanik. Zunächst wurde der historische Franck-Hertz-Veruch, der die Existenz diskreter Energieniveaus in Atomen belegt und seinen Namensgebern den Nobelpreis brachte, wiederholt und die Lage dieser Niveaus für Neon und Quecksilber vermessen. Schließlich wurde am Beispiel des Pohl'schen Drehpendels eine erzwungene Schwingung, Resonanz und (mit einer Unwucht) nichtlineare Dynamik untersucht. Ein paar Ergebnisse habe ich hier zusammengefasst.

Außerhalb des Studiums hat sich ebenfalls einiges ereignet. Inzwischen bin ich Mitglied der Trion Development Group. Jeder, dem das nichts sagt, ist in guter Gesellschaft. Die Trion Development Group wurde im September gegründet. Es handelt sich um eine internationale Kooperative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein neues Betriebssystem zu schreiben, das auf zahlreichen Rechnerarchitekturen lauffähig sein wird. Zur Programmierung wird C++ und Assembler eingesetzt, wobei großer Wert auf objektorientierte Programmierung gelegt wird. Aus der Beschreibung "Object Oriented Operating System" (OOOS) leitet sich der Name Trion ab. Die Projekthomepage ist unter http://trion.sourceforge.net zu finden, weitere Informationen gibt es unter http://sourceforge.net/projects/trion

Nach dem Rückblick ein kleiner Vorblick. Zunächst zur Physik: Die wohl typischste Vorlesung für das fünfte Semester ist QM1, also die erste Vorlesung in Quantenmechanik. Nachdem es bereits in der Physik III eine kleine Einführung in Wellenfunktionen und Operatoren gegeben hat, geht es jetzt ans Eingemachte: Der Formalismus wird von allen Seiten beleuchtet und durchgerechnet. Damit wird die Grundlage für QM2 und die Quantenfeldtheorie, also eine Kombination aus Quantenmechanik und spezieller Relativitätstheorie aufgebaut.

Ein wenig angewandter geht es bei der Elementarteilchenphysik zu. Bei dem Dozenten bin ich mir sicher, dass auch die Anschauung nicht zu kurz kommt: Er ist bekannt dafür, stets ein paar Atomi-Witze parat zu haben. Diese in jeder Ausgabe des Physik-Journals (früher Physikalische Blätter) vorhandenen Bildwitze handeln von den Atomis: kleinen, kugeligen Kerlchen, die den Gesetzen der Quantenmechanik folgen. Sie erklären so beispielsweise die stimulierte Emission, das Grundprinzip des Lasers, bei dem die Aussendung eine Photons zu einer sehr intensiven Strahlung verstärkt wird, durch die Situation in einem Klassenzimmer: "Ich muss mal austreten." - "Ich auch!" - "Ich auch!" - "Ich auch!" - "Ich auch!" - ...

Wie bereits in der Sommer-Mail angekündigt, kommt auch die Mathematik nicht zu kurz. Als Ergänzung zu den Grundvorlesungen gibt es eine "Mathematik 5", nämlich die Funktionalanalysis und Darstellungstheorie. In der theoretischen Physik bilden diese eine wichtige Grundlage. Aber die Mathematiker haben noch mehr zu bieten: Eine Einführung in die Theorie der Lie'schen Algebren (die Vorlesung heißt wirklich so) rundet den Plan ab.

Darüber hinaus besuche ich natürlich noch ein paar "Freizeitveranstaltungen". Das Seminar über Quantenphysik und Geometrie ist zwar nicht gerade leichte Kost, aber auf jeden Fall lohnenswert. Hier informieren sich Mathematiker und Physiker über gemeinsame Forschungsbereiche - eine einzigartige Kombination. Schließlich berichten in der Ringvorlesung und dem Kolloquium Forscher über ihre Arbeit - was könnte spannender sein.

Nun aber, wie oben angekündigt, zu den Herausforderungen. Die Jungiusstraße gleicht einem Schlachtfeld. Die Bauarbeiten haben die Zugangswege in eine Schlammpiste verwandelt. Der Fahrstuhl ist für vier Wochen außer Funktion. In meinem Büro fehlt der Estrich. Im Hörsaal herrscht das Chaos. Auf meinem Parkplatz steht ein Baucontainer. Das sind für einen Rollstuhlfahrer nicht gerade optimale Bedingungen. Aber wer meine "Goldenen Regeln" kennt, kann sich denken, dass ich mich davon nicht abschrecken lasse. Daher habe ich die interessanten Veranstaltungen in die angewandte Physik verlegen lassen, mit Fahrstuhl und Estrich. Einen Parkplatz zu finden dürfte auch möglich sein. Und Chaos ist für jemanden, der sich mit nichtlinearer Dynamik befasst hat, eher gewohnt als von Nachteil. Den passenden Spruch dazu präsentierte jemand auf seinem T-Shirt: "Wer die Physik verinnerlichen will, muss das Chaos in sich tragen."