Liebe Freunde und Verwandte!
Anlässlich "eines Festes, das demnächst gefeiert wird" (so begründete Prof. Büßer die geringe Teilnehmerzahl seiner Vorlesung gestern) ist die Gelegenheit für eine Rundmail günstig. Es ist Zeit, dass ich etwas über mein fünftes Semester berichte.
In meiner letzten Mail hatte ich bereits angekündigt, dass es sehr ereignisreich werden würde. Daher fasse ich noch einmal kurz zusammen: Elementarteilchenphysik, Quantenmechanik, Funktionalanalysis und Lie-Algebren sowie das Seminar über Quantenphysik und Geometrie sind die wichtigsten Veranstaltungen, die ich in diesem Semester besuche - allerdings nicht die einzigen. Alles aufzuzählen würde mein Modem verstopfen, daher beschränke ich mich auf das wesentliche.
Am besten beginne ich mit dem Thema, das mich nach Hamburg geführt hat - Elementarteilchenphysik, von Studenten gerne als E-Teilchen oder auch ET abgekürzt. Es handelt sich dabei um eine Experimentalvorlesung, es geht also vorwiegend um die praktische Seite der Forschung. Theorie wird bei Bedarf mitgeliefert, aber eher als Hilfsmittel zum Verständnis der Vorgänge in Beschleunigern und Detektoren betrachtet. Prof. Büßer, der für seine humorvolle Art bekannt ist und gerne Atomi-Witze als Folie auflegt, ist der ideale Dozent für diese Vorlesung. Am Anfang stand die Frage: Was ist ein Teilchenbeschleuniger? Jeder, der einmal bei DESY war und sich einen angesehen hat, weiß, dass es gigantische Maschinen sind, kilometerlange Röhren und haushohe Detektoren. Wenn man davor steht, bekommt man Respekt vor den Physikern, Ingenieuren und Technikern die sie erdacht und gebaut haben und natürlich auch in Betrieb halten. Ihre genaue Arbeitsweise war der erste Teil der ET-Vorlesung. Mit (fast) Lichtgeschwindigkeit umlaufende Teilchenpakete ("Bunches"), Strahlfokussierung, Beschleunigung, Kollision und Detektion der dabei entstandenen energiereichen Teilchen erforden höchste Präzision und enormen technischen Aufwand. Viele Technologien wurden eigens dafür entwickelt oder in die Praxis umgesetzt, um Teilchen mit hoher Energie zur Kollision zu bringen. Dabei folgen sie einer ganzen Reihe von Gesetzen, die ebenfalls in der Vorlesung behandelt werden. Symmetrieprinzipien, Erhaltungssätze und Auswahlregeln beschreiben, wie sich die Teilchen verhalten, aus denen unsere Welt besteht. Das dritte Jahrtausend bietet viel Spielraum für Forschung.
Das wichtigste Gesetz nicht nur für Elementarteilchen ist natürlich die Quantenmechanik. Von Heisenberg als Matrizenmechanik und Schrödinger als Wellenmechanik entwickelt und von Feynman um die Pfadintegrale erweitert bildet sie eine der fundamentalen Säulen des physikalischen Weltbildes. Daher kommt kein Physiker an der QM1, der ersten Vorlesung über Quantenmechanik vorbei. (Nicht jeder macht QM2 oder gar QFT, also Quantenfeldtheorie - aber ich habe ja noch Semester 6 und 7 vor mir...) Nach den elementaren Definitionen und Grundregeln ging es an das Verständnis der ersten quantenmechanischen Systeme. Was passiert, wenn man ein Teilchen hat, dass nur zwei Zustände einnnehmen kann? Oder mit einem Teilchen in einen Kasten? Wenn man Teilchen gegen eine Barriere schießt (Tunneleffekt)? Eine reine Theorievorlesung, in der der Umgang mit mathematischen Objekten wie Hilbertraumvektoren und selbstadjungierten (und unitären) Operatoren zum täglichen Handwerkszeug zählt. Bisher ist das die anspruchsvollste Vorlesung, die ich besucht habe, jedenfalls von denen, die für Studenten in meinem Semester gedacht sind (Stringtheorie war anspruchsvoller, aber für höhere Semester gedacht). Jede Woche gibt es eine Reihe von Übungsaufgaben, die mir große Freude bereiten und viele meiner Kommilitonen zur Verzweiflung bringen. Die Lösungen umfassen mehrere (computergeschriebene) Seiten pro Woche - und QM ist schließlich nicht die einzige Veranstaltung für einen Studenten. So gab es dann auch die große Panik vor der QM-Klausur gestern. So ließen die Aufgaben erwartungsgemäß viele Köpfe rauchen und ein Herz höher schlagen. Prof. Kramer macht es einen Studenten nicht leicht - er fordert und fördert.
Natürlich braucht ein Theoretiker viel Mathematik. Daher besuche ich in diesem Semester zwei reine Mathe- Vorlesungen, nämlich über Funktionalanalysis und Lie-Algebren. Beide richten sich auch an Physiker, da die dort behandelten Themen in der Physik eine wichtige Rolle spielen. Die Funktionalanalysis ist eine Ergänzung von Prof. Michalicek zu seinen vier Semestern Mathe für Physiker - anspruchsvoll und wenig besucht. Anders bei den Lie- Algebren: Diese Vorlesung gehört zu einen Algebra-Zyklus für theoretische Physiker, der im nächsten Semester mit Quantengruppen fortgesetzt wird. Der Dozent, Prof. Schweigert, hat Physik studiert und war eine Zeit beim CERN in Genf beschäftigt. In beiden Vorlesungen habe ich demnächst noch Seminarvorträge zu halten.
Das bringt mich auf den letzten Punkt: Das Seminar über Quantenphysik und Geometrie. Hier diskutieren die besten Köpfe aus Physik und Mathematik über Dinge, die für beide Seiten von Nutzen und Interesse sind. Es handelt sich um eine der anspruchsvollsten Veranstaltungen am Fachbereich, die selbst Professoren ins Grübeln bringt. Daher ist sie stets gut besucht. Das Seminar findet im Wechsel im Geomatikum (bei den Mathematikern) und am DESY (bei den Physikern) statt. Vorgestern war es am DESY. Nach zwei Mathematikvorträgen über Fast-Kähler-Mannigfaltigkeiten (nein, das erkläre ich nicht) folgte ein Physikvortrag darüber, was man damit überhaupt anfangen kann - nämlich Stringtheorie betreiben. Auch wenn so ein Seminar überaus anstrengend ist und volle Konzentration verlangt, ist es auch ein Vergnügen für alle beteiligten. Die Theorie wird locker und humorvoll angegangen und die Mittagspause in der DESY-Kantine bietet Spielraum für andere Unterhaltungen bei gutem Essen, z.B. Straussengulasch. Eines ist unverkennbar: Hier arbeiten nicht nur viele Forscher an vielen Dingen, sondern auch eine Gemeinschaft an etwas ganz großem.
Nach dem Seminar gabe es am Donnerstag noch etwas besonderes: Die Weihnachtsvorlesung. Angekündigt war ein Vortrag von Prof. Fredenhagen über die "seltsame Welt der Quanten". Zunächst gab er einen kleinen Überblick zur Fragestellung, die er quantenmechanisch lösen wollte: Wie verteilt der Weihnachtsmann die Geschenke? Es folgten 45 Minuten Spaß und Humor sowie faszinierende Erkenntnisse. Wer hätte gedacht, dass ein Rentierschlitten 13% der Lichtgeschwindigkeit erreicht und dabei die Leistung von 500 Kernkraftwerken umsetzt? Oder dass Geschenke in Wirklichkeit Wellenpakete mit einem Interferenzmaximum unter dem Weihnachtsbaum sind, unter den sie nur dank Tunneleffekt und Quantenteleportation gelangen können? Das ganze endete mit einer Sequenz von harmonischen Schwingungen, die unter Nichtphysikern als "Morgen kommt der Weihnachtsmann" bekannt ist.
Bereits 1987 wusste Belinda Carlisle: Heaven is a place on earth - und genau da studiere ich.