Eine Woche Chaos (24. 10. 2004)

Liebe Freunde und Verwandte!

Es ist zwar etwas früh für eine erneute Rundmail, aber die aktuellen Ereignisse sind so unglaublich, dass ich sie unbedingt loswerden muss. Eine so chaotische Woche (und einen so chaotischen Semesteranfang) habe ich zuvor nicht erlebt. Alles begann mit einer Vorlesung, die eigentlich gar nicht stattfinden sollte...

Normalerweise gibt es immer im Wintersemester die QFT, also Quantenfeldtheorie. Davon hatte ich ja bereits in der letzten Mail geschrieben, dass sie ursprünglich in diesem Semester nicht angeboten und erst durch den Einsatz einen Kommilitonen in das Programm aufgenommen wurde. Wenig später stand dann auch der Termin fest - Montags und Mittwochs, 14:30 - 16:00. Am nächsten Tag war dieser Termin schon wieder Schnee von gestern, jetzt hieß es 18:00 - 19:30, bei DESY. Dieser wunderbare Zeitpunkt entstand durch die Überbelegung aller Veranstaltungsräume, die zur Zeit renoviert werden. Also bin ich am Montag abend (wie knapp 20 andere Studenten) zu DESY gefahren. Es wurde 18:00, 18:05, 18:10... Schließlich hat sich Marco (der die Vorlesung organisiert hat) auf die Suche begeben. Wenig später kam der Dozent, leicht irritiert, in den Seminarraum. "Die Vorlesung sollte doch erst am Mittwoch anfangen..." Ein Druckfehler im Vorlesungsverzeichnis... So ging es unverrichteter Dinge zurück. Am Mittwoch stellte sich aber heraus, dass ich in dieser Vorlesung genau richtig aufgehoben bin. Jetzt gibt es sogar noch Übungen dazu - Montags bis 20:00. Aber die Vorlesung ist so unterhaltsam, spannend und interessant, dass ich sie auch um Mitternacht noch hören würde.

Ähnlich verwirrend ist die Kombination der Vorlesungen Allgemeine Relativitätstheorie (ART) (in der Physik) und Gruppentheorie (im Geomatikum, 1500m von der Physik). Zwischen denen liegen nur 15 Minuten, was für jemanden ohne Rollstuhl nicht zu schaffen ist. Zudem gibt es nach der Gruppentheorie noch Übungen zur selbigen, die sich mit der ART überschneiden. Allerdings seien die nicht so wichtig, man könne auch einfach die Aufgaben lösen und in der Vorlesung abgeben. Also bin ich am Dienstag nach der Gruppentheorie in die Physik gefahren, um mich der ART zu widmen. Dann ist mir aufgefallen, dass ich meinen Schlüssel im Büro habe liegen lassen. (Ich muss durch einen Gang mit hochsensiblen Experimenten, daher habe ich einen Schüssel für diesen Bereich und eine Zugangskarte für den Rückweg.) Auf dem Weg dorthin stellte ich fest, dass meine Kollegen gerade nicht da waren und alles abgeschlossen hatten - ich kam also nicht an meinen Schlüssel. Daher bin ich trotzdem in Richtung ART gefahren, falls zufällig jemand mit einen Schlüssel vorbeikommt. Das hat auch geklappt. In dem Moment fiel mir ein, dass ich gar nicht zurück komme, weil ich meine Zugangskarte auch in Büro habe liegen lassen... Egal, zuerst kommt die Vorlesung. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass der Hörsaal komplett leer war - mir war das unverständlich. Später stellte sich heraus, dass die Vorlesung drei Tage später anfängt - das stand sogar richtig im Vorlesungsverzeichnis...

Beim Lesen der Hinweise an der Hörsaaltür fand ich einen Aushang über das nächste Praktikum, das mir bevorsteht. Man könne sich in eine Liste vor dem Raum 108 eintragen. Ein klarer Fall - Raum 108, erster Stock. Also fuhr ich vom Erdgeschoß in den ersten Stock. Raum 201, 202, 203... Das war falsch. Also fuhr ich vom ersten Stock ins Erdgeschoß und dort an das Ende des Ganges. (Nein, nicht in Indien.) Raum 101 (Aha!), 102, 103... Als ich bei 108 angekommen war, stand ich wieder vor dem Fahrstuhl. Die Liste lag tatsächlich direkt dem Fahrstuhl gegenüber. Im Raum 108 (was für ein Zufall) fand ich auch jemanden mit einer Zugangskarte für den Rückweg.

Wer jetzt glaubt, es könne nicht schlimmer kommen, irrt sich gewaltig. Am Freitag hatte ich mir ein Seminar über Gravitationswellen ausgesucht. Dafür hatte ich mir den Raum 240 im Geomatikum notiert. Also fuhr ich in den zweiten Stock (hier funktioniert die Methode) und folgte dem Wegweiser "240 - 245 ->". Dort fand ich die Räume 241, 242, 243, 244, 245. Nach längerer Suche bemerkte ich das Schild mit der Aufschrift "240" - an der Herrentoilette. Das hielt ich für einen ungewöhnlichen Ort für ein Seminar. Im Seminarraum 241 konnte mir niemand weiterhelfen. Also habe ich einfach gewartet... Als mir das zu lange dauerte, bin ich in Richtung Fahrstuhl gefahren - wo mir der Dozent entgegenkam. Seine Kollegin schickte mich in Raum 432. Dort traf ich eine Studentin und fragte sie nach den Gravitationswellen. Sie erkärte mir, da wäre ich hier falsch - es ginge um Differentialgeometrie. Damit hat sie mich vollends aus dem Konzept gebracht, weil ich mich ursprünglich mit Diff-Geom befassen wollte und dachte, es würde in diesem Semester gar nicht angeboten. Schließlich kamen zwei Dozenten, die den Raum 432 für sich beanspruchten. Dabei stellte sich heraus, dass die Gravitationswellen im Raum 430 stattfinden. Das war mir aber inzwischen egal, weil ich Diff-Geom viel interessanter fand. Indem ich dorthin gewechselt habe, hatte dieses Seminar genau doppelt so viele Teilnehmer wie die Gravitationswellen - es stand 6:3, inklusive der Dozenten. Als Ergebnis dieses Chaos darf ich nun in zwei Wochen einen Vortrag über etwas halten, von dem ich nie zuvor gehört habe. Oder kennt sich jemand mit Orbifaltigkeiten (Orbifolds) aus? Dem Dozenten nach sind z.B. Zitronen oder "American Footballs" solche Orbifolds. Daher kommt vermutlich auch der Ausdruck "mit Zitronen handeln".

Das Chaos der letzten Woche hat zu meiner 269. goldenen Regel geführt: "Versuche nicht, das Chaos zu beseitigen - kultiviere das Chaos."