Liebe Freunde und Verwandte!
Was macht ein religiöser Mensch mindestens einmal in seinem Leben? Richtig, eine Pilgerfahrt. Die einen reisen nach Mekka, die anderen nach Santiago de Compostela, und einige wenige auch zum CERN, dem europäischen Kernforschungszentrum in der Nähe von Genf. Aber wer meine Rundmails gewohnt ist, der weiß: Erst kommt der Appetitmacher, und dann geht es chronologisch weiter.
Die ganze Sache nahm bereits vor einem Jahr ihren Anfang, als ich in der ersten Vorlesung über Beschleunigerphysik saß. Der Dozent kündigte an, dass sie sich über zwei Semester erstrecken und mit einer Exkursion in diverse Beschleunigerzentren enden würde. Und wer nun mitgerechnet hat wird feststellen, dass eine zweisemestrige Vorlesung, die vor einem Jahr begonnen hat, inzwischen zuende sein dürfte. Und wer nun die Exkursion, die 17 Teilnehmer unfasste, mit der oben angesprochenen Pilgerfahrt identifiziert, trifft damit genau ins schwarze.
Es begann am Dienstag um 7:24 mit der Abfahrt eines ICE vom Hamburger Bahnhof. Ziel der Reise: Darmstadt. Wer sich mit Physik auskennt, dem ist diese Stadt nicht fremd. Nach einem kurzen Stop am Hotel zwecks Einchecken kamen zwei Busse, um uns zur Hauptattraktion dieser Stadt zu bringen - der GSI, der Gesellschaft für Schwerionenforschung. Diese betreibt, wie der Name schon andeutet, einen großen Komplex zur Beschleunigung von Ionen, also geladenen Atomen. Leider waren zwei der Beschleuniger während des Besuchs in einer Testphase und daher gesperrt. Aber der Kontrollraum und der Experimentierspeicherring, in dem mit den Ionen Versuche durchgeführt werden, war zugänglich. Darüber hinaus konnten wir eine Therapieeinrichtung besichtigen, in der eine Methode mit einem Strahl von Kohlenstoff-Ionen zur Therapie von Hirntumoren erfolglreich an einer Reihe von Patienten getestet wurde.
Im Anschluß ging die Reise in die Innenstadt, genau genommen in die technische Universität. Diese betreibt einen Elektronenbeschleuniger für diverse Experimente, der ebenfalls von uns besichtigt wurde.
Der Abend endete kubanisch im Restaurant Havana. Während sich die einen vor der dortigen Küche scheuten, testeten die anderen recht intensiv das Cocktailangebot und demonstrierten den Darmstädter Kellnerinnen die Trinkfestigkeit der Hamburger Physikstudenten. (Dass ich Asket bin, ist wohl hinlänglich bekannt!) Die Heimfahrt zum Hotel nach Arheiligen mit der Straßenbahn bis zu deren Endhaltestelle erwies sich insofern als interessant, dass diese nicht den erwarteten Namen trug und wir sie wohl verpasst hätten, wenn der Zug weitergefahren wäre.
Mittwoch früh ging es weiter nach Villigen in der Schweiz, ebenfalls mit dem Zug und einem Schweizer Postbus. Physiker wissen, dass sich dort das PSI befindet, das Paul-Scherrer-Institut, in dessen Gästehaus wir uns umgehend einquartierten. Dann begann die Besichtigung mit der SLS, der Swiss Light Source, einem Elektronensynchrotron, das zur Erzeugung intensiver Strahlung eingesetzt wird. Als wir dort ankamen, wurden wir mit einem schmackhaften Buffet empfangen. Als wir dann den Kontrollraum besichtigten, war das Synchrotron in Betrieb - aber nur so lange, bis der Dienstleiter einen Knopf drückte und damit den Elektronenstrahl an die Kammerwand beförderte, und das nur, damit ein paar Studenten sich den Beschleuniger ansehen können. Denn im Betrieb ist die Strahlung im Beschleuinigertunnel zu hoch, aber ohne Strahlbetrieb kann man ihn gefahrlos betreten. Danach ging es weiter zu den Experimenten.
Die PSI betreibt jedoch noch zahlreiche weitere Einrichtungen, darunter auch einen Protonenbeschleuniger, der für den Betrieb einer Spallationsneutronenquelle eingesetzt ist und weltweit die höchste Ausgangsleistung besitzt. Die dort erzeugten Neutronen werden für diverse Forschungsexperimente eingesetzt. Die Quelle der Protonen, ein großes Zyklotron, konnten wir trotz Betrieb ausnahmsweise besichtigen, da Protonen nicht so stark strahlen wie Elektronen.
Abends gab es ein gemeinsames Essen in der Oase, dem Restaurant der PSI. Der Heimweg war entsprechend kurz, allerdings führte er steil bergan.
Donnerstag früh ging es schon wieder weiter, mit Bus und Bahn nach Genf und von dort aus zum CERN, dessen Hauptgelände sich bei Meyrin befindet und von der Schweiz bis nach Frankreich erstreckt. Die Suche nach dem Gästehaus und vor allem nach einem ebenerdigen Weg dorthin erwies sich als recht schwierig. Auf dem Programm stand diesmal eine Baustellenbesichtigung, und zwar in einer nicht gerade kleinen Montagehalle, in der der CMS-Detektor gebaut wird. Dieses 15m hohe und 24m lange Präzisionsinstrument stellt eines der Experimente dar, die ab 2007 mit dem neuen, 27km langen Beschleuinger LHC bei CERN durchgeführt werden sollen.
Am Abend gab es ein Abschlußessen in einem Schloßrestaurant in Frankreich. Für die als "Arbeitsessen" abgerechneten Speisen hätte sich jeder Teilnehmer ein mehrbändiges Lehrbuch kaufen können. Die Nacht verbrachten wir dann im komfortablen CERN-Gästehaus.
Der Freitag beinhaltete zwei weitere Führungen. Zunächst ging es zum Teststand der supraleitenden Magnete für den LHC-Beschleuniger. Diese werden einzeln auf ihre Betriebstemperatur von 1,9K (also -271,25°C) abgekühlt und in Betrieb genommen, um sie sowohl magnetisch als auch geometrisch mit höchster Präzision zu vermessen. Schließlich werden sie einmal zwei Protonenstrahlen mit einer Präzision von wenigen Mikrometern führen.
Die zweite Besichtigung führte zu LEIR, einem kleinen im Bau befindlichen Beschleuniger, der einmal Ionen beschleunigen und für die Injektion in den LHC kühlen wird. Damit wird der LHC zu einem Multifunktionsbeschleuniger.
Nachmittags ging es mit dem Bus zurück nach Genf. Das Wetter war recht sonnig und lud zu einem Spaziergang am Genfer See ein. Für mehr war leider keine Zeit, denn schon am späten Nachmittag brachte uns ein Zug nach Zürich, von wo ein Flugzeug uns wieder nach Hamburg brachte. So endete um 23:00 diese großartige Reise.
Schließlich habe ich noch eine Anekdote zum Thema "Physik verbindet". Im Zug von Genf nach Zürich besetzte ich zunächst ein paar Fahrradplätze, bis jemand mit Fahrrädern kam und ich mich zu einem Ehepaar mit zwei Kindern, davon eines in einem Kinderwagen gesellte. Sie hatten ein paar Dinge ausgebreitet und da fiel mein Blick auf ein paar Zettel, die sich als Fachartikel über Quantenmechanik herausstellten. Als ich sie darauf ansprach (auf englisch natürlich), reagierten sie recht erstaunt, dass ich das erkannt hätte. Im Gespräch kam heraus, dass es sich um Physiker handelte, die in Insbruck arbeiten, aus Spanien stammen und zu einer Tagung in der Schweiz waren. Diese längere Unterhaltung war sehr interessant und hat wieder einmal gezeigt, wie kontaktfreudig Physiker vor allem untereinander sind.