Die Autogrammstunde

Im Jahr 2004 wuchs nicht nur in Deutschland die Begeisterung für die estnische Band Vanilla Ninja. Spätestens seit ihrem Album "Traces of Sadness" und dem Konzert vom 5. Juni in Tallinn, dass knapp 2 Monate später in Deutschland ausgestrahlt wurde, wurde auch ich zu einem Fan und besuche seitdem von Zeit zu Zeit ihre Webseite, um auf dem Laufenden zu sein. So auch an einem Septemberabend des gleichen Jahres. Ich befand mich in Hamburg und nahm zu der Zeit an einem Praktikum am Institut für Experimentalphysik teil. In jener Woche ging es um einen Versuch zum Thema Teilchenphysik, der recht arbeitsintensiv war und meinen Praktikumspartner und mich oft bis abends dort festhielt.

An jenem Abend blickte ich also auf die Webseite von Vanilla Ninja und las zu meiner Freude von einigen Autogrammstunden. Noch mehr freute es mich, dass eine davon in Hamburg stattfinden sollte! In einem großen Kaufhaus in Wandsbek, um genau zu sein. Dann las ich das Datum: 30. September 2004. Wann? 30. September? Ich sah auf die Uhr und las das aktuelle Datum ab: 29. September! Die Autogrammstunde ist morgen! Nun galt es, die Uhrzeit rauszufinden. Darüber verlor die Webseite kein Wort, auch andere Webseiten lieferten keine Antwort. Also rief ich direkt beim Kaufhaus an und bekam prompt die Antwort: 17:00. Perfekt. Ich legte mir ein paar Sätze auf estnisch zurecht und begann mich zu freuen.

Ich hatte das Praktikum vergessen! Und der nächste Tag sollte sehr arbeitsreich werden... Das war mir egal. Mir war jedes Mittel recht, um von da zu verschwinden. Also bereitete ich alles für den großen Tag vor, lernte estnisch statt Physik und packte meinen Koffer. Nur eine Tasse Tee hielt mich davon ab, durch meine Nervosität den Teppich in meinem Zimmer noch mehr abzunutzen. Ich fand in der Nacht nur wenig Schlaf und fuhr am Morgen ganz früh los, um schon mal ein wenig vorzuarbeiten.

Am Nachmittag gab es eine Besprechung. Es ging um ein paar fehlende Berechnungen, die Methode an sich und das weitere Vorgehen sowie den Vortrag am nächsten Tag. Insgesamt gab es viel zu tun. Ich sah auf die Uhr: 15:00. Ich wusste, dass ich mindestens eine Stunde bis Wandsbek brauchen würde. Also fragte ich den Praktikumsassistenten, ob ich nicht etwas früher Schluß machen könnte. Er fragte mich, wann, und ich sagte ihm in einer halben Stunde. Er war alles andere als begeistert. Schließlich stimmte er zu, unter der Voraussetzung, dass ich einen guten Vortrag halten würde. Also verbrachte ich die restliche halbe Stunde damit, Material für den Vortrag zu organisieren und fuhr dann los in Richtung Wandsbek.

Der Verkehr war ziemlich dicht und ich brauchte etwas mehr als eine Stunde, zuzüglich der Parkplatzsuche. Dann fand ich einen Platz, direkt am Eingang. Ich sah mich in dem Gebäude um. Es war 16:45. Dort war ein kleiner Stand aufgebaut, mit Autogrammkarten und CDs. Es hatte sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Ich sah mich erst noch etwas in dem Geschäft um und gesellte mich dann zu den Wartenden. Es wurde 17:00. Dann 17:30. Eine weibliche Stimme verkündete, dass es wohl wegen des dichten Verkehrs noch etwas dauern könnte. Vor mir war eine junge Dame, offensichtlich ein wahrer Ninja-Fan. Ein paar Typen hinter mir hatten es kurz auf sie abgesehen, wandten sich dann einem anderen Opfer zu. Schließlich schlossen sich die beiden Damen zusammen und wurden dann nicht mehr von den Typen genervt, die sich stattdessen den Handys zuwandten und dabei den Diebstahlalarm auslösten. Mit stoischer Ruhe beobachtete ich das Geschehen. 18:00. 18:30. Nun verkündete die Stimme, dass die Ninjas gerade eingetroffen seien und nun bald hereinkommen würden.

Ein lautes Kreischen weiter vorne verkündete die Ankunft der Ninjas, die sich jenseits meines Gesichtsfeldes zu dem Stand begaben, den ich bereits unter die Lupe genommen hatte. Langsam setzte sich die Schlange in Bewegung. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis ich Lenna erblicken konnte, die mir am nächsten saß. Die Besucher wurden vom Sicherheitsdienst einzeln hinter die Absperrung gelassen. Ich wartete geduldig, aber mit Herzklopfen. Einem Mann ging es wohl zu langsam und so drängte er den Wachmann, es etwas schneller angehen zu lassen. Daraufhin ließ er mich durch und ich begab mich zu dem Schreibtisch. Nun war es also soweit: Auge in Auge mit Vanilla Ninja.

Lenna schaute mich an und begrüßte mich mit einem freundlichen "Hi!". Ich erwiderte ihren Gruß auf estnisch. Dann schaute auch Katrin zu mir hoch, die neben ihr saß. Auch sie grüßte mich und ich erwiderte ihren Gruß in gleicher Weise. Dabei sah ich ihr in ihre Augen, und sie tat das gleiche. Es waren nur ein paar Sekunden, in denen wir uns so ansahen, aber es war genug, um mein Sprachzentrum außer Funktion zu setzen, und das in jeder Sprache. Ich bemerkte, geistig wohl etwas abwesend, nur noch, dass Triinu ganz mit dem Unterzeichnen von Autogrammkarten beschäftigt war und Piret mir ein Autogramm in die Hand drückte. Ich bedankte mich und räumte das Feld für die nächsten Anwärter.

Ich schnappte mir noch ein paar Kleinigkeiten und begab mich dann an die Kasse. Schließlich räumte ich alles in meinen Wagen, verstaute das Autogramm sehr sorgfältig und sicher verpackt in meinem Koffer und begab mich zur Schranke. Ich schob mein Parkticket in den Automaten - Fehlermeldung. Noch ein Versuch - noch ein Fehler. Ich versuchte es ein paar Mal, ohne Erfolg. Schließlich rief ich einen Angestellten zur Hilfe, der die Schranke mit seiner Universal-Karte öffnete und mich damit befreite. Gegen 20:00 kam ich schließlich erschöpft, aber glücklich zu Hause an.

Das war aber noch nicht das Ende der Geschichte. An dem Abend schrieb ich mir an aller Eile noch den Vortrag für den nächsten Morgen zusammen. Ich entwarf und druckte ein paar Folien, in der Hoffnung, damit irgendetwas anfangen zu können. Hundemüde legte ich mich schlafen. Am nächsten Morgen fuhr ich wieder früh zu DESY, immer noch müde. Auch kurz vor Beginn meines Vortrags war das nicht anders. Etwas unausgeschlafen erklärte ich den Versuch und insbesondere die Theorie dazu. Ich fühlte mich ziemlich unsicher dabei, strahle aber immer noch ein positives Gefühl von der vergangenen Autogrammstunde aus. Das hat wohl geholfen. Immerhin war der Praktikumsassistent damit zufrieden. Mein Fazit: Es hat sich gelohnt!