Tage können sehr verschieden sein. Es gibt Tage, an denen trifft man immer wieder die gleichen Menschen. Es gibt Tage, da trifft man unbekannte Menschen. Es gibt Tage, da trifft man nur Idioten. Es gibt Tage, da trifft man absolut niemanden. Und dann gibt es noch diese ganz besonderen, seltenen Tage, die man nie wieder vergisst: An diesen Tagen trifft man einen Engel.
Eigentlich verlief der Tag wie jeder andere - ein Tag in der Uni, unzählige Gleichungen, nichts ungewöhnliches. Für den Abend hatte ich mir vorgenommen, am monatlichen OpenStreetMap-Stammtisch teilzunehmen, in einem Cafe im Sternchancenpark. Weil die Parkplätze dort ziemlich knapp sind, habe ich meinen Wagen - wie sonst auch - auf dem Gelände der physikalischen Institute abgestellt, knapp einen Kilometer entfernt. Dort finde ich immer einen freien Platz, bin nicht direkt an der Straße und finde - für gewöhnlich - auch schnell jemanden, der mir mit dem Verladen meines Rollstuhls helfen kann. Kaum war ich dort angekommen, kamen auch schon zwei Studenten vorbei, die mir aus dem Wagen geholfen haben. Also nichts wie los zum Stammtisch, dort eine Kleinigkeit essen, mit den anderen diskutieren… Wie so ein Stammtisch eben ist. Vielleicht zwei Stunden später habe ich mich dann auf den Rückweg gemacht, zur Physik und meinem Wagen. Und dann geschah es…
Die Physik war menschenleer. Ich bin ein paar Mal über das Gelände gefahren, aber es war niemand zu finden, der mir hätte helfen können. Also habe ich vor dem Gelände gewartet und die Straße entlang geschaut - aber auch dort war niemand zu sehen. Also blieb mir nichts anderes übrig als warten. Ich hatte mich schon fast auf eine lange Wartezeit eingestellt, als sie plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und auf der anderen Straßenseite entlang ging. Sie war sehr zierlich und wirkte fast ein wenig verloren. Ich überlegte. Sollte ich sie wirklich ansprechen? Wie würde sie reagieren? Würde sie… Nein, es musste schnell gehen, und wenn ich noch länger überlegt hätte, wäre sie weg gewesen und ich hätte vermutlich noch eine halbe Ewigkeit dort gesessen. Also habe ich sie quer über die Straße gerufen…
Sie drehte sich zu mir um, sah mich an und rief zurück, mit einer zauberhaften Stimme, wie die einer Nachtigall. Für einen kurzen Moment verschlug sie mir die Sprache. Schnell erklärte ich ihr, dass ich etwas Hilfe bräuchte - und ohne zu zögern kam sie auf mich zugelaufen. Ihre Schritte waren ein wenig unsicher, und dennoch schien es, als würde ihre Ballerinas den Boden gar nicht berühren, sie schien einfach zu schweben, wie ein Engel. Ein Engel? Sollte sie etwa gerade eben vom Himmel gefallen sein, nur um mir zu helfen? Fast kam es mir so vor. Ihr süßes Lächeln war so vertraut, obwohl ich ihr ganz sicher noch nie begegnet war. Bei mir angekommen wirkte sie sichtlich verlegen und unsicher, ob sie mir überhaupt helfen könne - sie sagte mir, dass sie nicht ganz nüchtern sei. Doch ich sagte ihr, das könne sie ganz bestimmt. Lächelnd begleitete sie mich auf das Gelände der Physik. Sie hatte ein wenig Angst, das konnte ich spüren - also versuchte ich, sie ein wenig zu beruhigen, und sie wich nicht von meiner Seite. In diesem Moment war ich mir ganz sicher, dass sie ein Engel war. Jede andere junge Dame hätte eher die Flucht ergriffen, statt einen Fremden auf ein dunkles Gelände zu begleiten. Doch statt vor einer möglichen Gefahr für Leib und Leben zu fliehen, bot sie mir ihre Hilfe an. Diese Selbstlosigkeit - sie musste einfach ein Engel sein. So konnte kein Mensch sein. Kaum waren wir an meinem Auto angekommen, half sie mir beim Verladen das Rollstuhls - und das konnte sie viel besser als die meisten Physiker im nüchternen Zustand.
Danach ging alles viel zu schnell, und irgendwie macht es mich noch immer etwas traurig, wenn ich daran zurückdenke. Ich habe ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren, eben weil sie nicht ganz nüchtern war und ich sie ungern zu so später Stunde alleine gelassen hätte. Doch sie lehnte ab - sie war auf dem Weg in die Law School gegenüber, wo sie Jura studierte. Ich konnte mich kaum bei ihr bedanken, so schnell war sie wieder verschwunden - fast noch schneller, als sie aufgetaucht war. Irgendwie hat mir das ein schlechtes Gewissen bereitet, weil sie mir so selbstlos geholfen hat und ich mich nicht dafür revanchieren konnte… Und ein wenig in Sorge war ich auch, dass ihr etwas zustoßen könnte. Ich kann nur hoffen, dass sie gut an ihrem Ziel angekommen ist, und ihr das beste wünschen. Wiedersehen werde ich sie wohl nie, denn Engeln begegnet man nur einmal…