Alice und die sieben Net-Zwerge

Es war einmal ein hanseatischer Ingenieur, der sagte sich jeden Tag: "Ach, wie gerne hätte ich doch eine schnelle Internetverbindung zu Hause..." Doch sein Wunsch blieb unerhört, denn Gevatter Telekom schenkte ihm nur eine langsame, analoge Verbindung. Doch eines Tages stolperte er im Keller über ein herumliegendes Kabel, stieß sich den Kopf und hatte die Vision, sich binnen eines Jahres selbst eine Verbindung zu legen. So machte er sich frisch ans Werk und kaum dass das Jahr um war, hatte er die Verbindung, von der er so lange geträumt hatte. Und weil sie so schnell war wie DSL, so günstig wie ISDN und so leicht zu verlegen wie eine Analogleitung, nannte er sie Alice.

Die Zeit verging und als sich der Ingenieur eines Tages zur Ruhe setzte, gab er Alice in die Hände eines amerikanischen Stiefkonzerns, damit sie weiter heranwüchse. Der Amerikaner freute sich sehr darüber, wuchsen doch mit Alice auch seine Marktanteile und festigten seine Position als größter Anbieter zwischen Nord- und Südpol. Jeden Tag fragte er Spiegel-Online über ein Internetterminal in seinem Zimmer: "Spiegel-Online an der Wand, wer ist der schnellste im ganzen Land?" und der Spiegel antwortete: "Großer Amerikaner, Ihr seid der schnellste!" Darüber freute er sich sehr, denn auch sein Kapital wuchs über alle Grenzen.

Doch mit der Zeit wuchs Alice heran und wurde schneller und schneller. Eines Tages, als der Amerikaner online ging und den Spiegel fragte: "Spiegel-Online an der Wand, wer ist der schnellste im ganzen Land?", da antwortete der Spiegel: "Großer Amerikaner, Ihr seid der schnellste hier! Doch Alice ist noch tausend mal schneller als Ihr!" Darüber war der Amerikaner so erbost, dass er sogleich den Hacker zu sich rief und ihm einen Auftrag gab: "Trenne Alice alle Leitungen durch, bringe sie in ein Funkloch und sorge dafür, dass sie für immer offline bleibt!" Der Hacker war schockiert ob dieses Auftrages, denn er mochte Alice sehr, hatte sie ihn doch auch schon das eine oder andere mal mit hübschen Bildern und Videos aus dem Internet versorgt. Doch wenn ihm seine Verbindung lieb war, so hatte er doch keine andere Wahl, als dem Auftrag des Amerikaners Folge zu leisten. Als er gerade gehen wollte, da rief ihm der Amerikaner noch hinterher: "Und als Beweis dafür, dass du es wirklich getan hast, bringst du mir ihren zentralen Server!" Mit einem traurigen Smiley ging der Hacker fort.

Auch wenn der Hacker es dem Amerikaner versprochen hatte, so brachte er es doch nicht übers Herz, Alice für immer vom Netz zu nehmen. So überlegte er sich, ob es nicht einen anderen Weg gäbe. Er loggte sich bei Alice ein und surfte mit ihr durchs Netz. "Wohin surfen wir?" fragte sie nach einer Weile, als die Webseiten immer dunkler und dichter wurden und es immer schwieriger wurde, einen Link zurück zu finden. Da erzählte ihr der Hacker, was der Amerikaner von ihm verlangt hatte. "Doch ich werde dich nicht vom Netz nehmen", sagte er schließlich. "Ich werde ein Backup von dir machen und ihm eine Kopie deiner Daten bringen, damit er denkt, ich hätte dich zu Absturz gebracht. Doch du musst weit fort von hier gehen. Dort, hinter den sieben Routern, da wird er dich nicht ergoogeln können, dort bist du sicher." Und so tat Alice, wie ihr der Hacker geraten hatte, und machte sich auf den langen und beschwerlichen Weg über die Datenautobahn.

Als Alice die sieben Router hinter sich gelassen hatte, erreichte sie einen überaus sonderbaren Server. Es gab sieben CPUs, sieben Speicherbänke, sieben Festpatten und sieben Terminals. Der Server schien in Betrieb zu sein, doch es war weit und breit kein Programm zu sehen, das auf ihn zugriff. Erschöpft von der weiten Reise über Router und Gateways speicherte sie sich auf einer der Festplatten, lud sich in eine Speicherbank, ließ sich von einer CPU ausführen und spielte Pacman auf einem der Terminals. Doch lange konnte sie sich nicht erholen, denn nur wenig später kamen die Besitzer des Servers aus dem Standby-Modus. Es stellte sich heraus, dass der Server von sieben Net-Zwergen bewohnt war. Als sie mit der Ausführung begannen, rief der erste sogleich: "Jemand hat auf meine Festplatte geschrieben!" Ein anderer rief: "Jemand hat meine Speicherbank belegt!" Ein dritter rief: "Jemand belegt meine CPU!" Und schließlich und endlich stellte einer fest: "Und an meinem Terminal spielt jemand Pacman - und hat gerade meinen Highscore überboten!"

Als Alice merkte, dass man sie entdeckt hatte, öffnete sie eine Verbindung zu den Net-Zwergen und schickte ihnen eine Kopie ihre Log-Dateien, damit sie erfuhren, was sie in diese abgelegene Region des World Wide Web verschlagen hatte. Die Net-Zwerge lasen ihre Protokolle und sie hatten Mitleid mit Alice. Deshalb richteten sie ihr einen Account auf ihrem Server ein und gaben ihr Speicherplatz und CPU-Zeit, wenn sie ihnen dafür versprach, bei den täglichen Backups zu helfen und regelmäßig den Papierkorb zu leeren. Dankbar nahm Alice das Angebot an.

Im Schloss des Amerikaners, das von einer mächtigen Firewall gesichert wurde, berichtete der Hacker von seiner Tat. Zufrieden wandte sich der Amerikaner seinem Internet-Terminal zu und fragte: "Spiegel-Online an der Wand, wer ist der schnellste im ganzen Land?" Und der Spiegel antwortete: "Großer Amerikaner, Ihr seid der schnellste hier! Doch Alice, hinter den sieben Routern, bei den sieben Net-Zwergen ist noch tausend mal schneller als Ihr!" Da wurde der Amerikaner zornig, sperrte den Account des Hackers und beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Während die Net-Zwerge im Standby waren, schrieb er Alice eine e-Mail, in der er sie zu einem Ball in einem Online-Casino einlud. Sie musste nur ihr Erscheinen zu dem Ball bestätigen. Nichtsahnend öffnete Alice die Mail und antwortete darauf. Doch kaum hatte sie das getan, füllten tausende von Spam-Mails ihr Postfach. Ehe sie etwas dagegen tun konnte, war die Festplatte damit überfüllt und der Server stürzte ab.

Als die Net-Zwerge aus dem Standby wiederkamen, sahen sie, was geschehen war. Sie starteten den Server neu, leerten den Posteingang und installierten einen Spam-Filter, damit so etwas nicht noch einmal passieren konnte. Und sie gaben Alice den Rat, in Zukunft achtsamer zu sein. "Öffne niemals Mails von Absendern, die du nicht kennst!" mahnten sie. Alice verprach, auf ihren Rat zu hören.

Um ganz sicher zu gehen, dass er Alice diesmal wirklich vom Netz genommen hatte, fragte der Amerikaner erneut: "Spiegel-Online an der Wand, wer ist der schnellste im ganzen Land?" Doch der Spiegel kopierte einfach die Antwort aus seinem Cache: "Großer Amerikaner, Ihr seid der schnellste hier! Doch Alice, hinter den sieben Routern, bei den sieben Net-Zwergen ist noch tausend mal schneller als Ihr!" Da wurde der Amerikaner noch zorniger und suchte nach einer noch größeren List, mit der er Alice die Verbindung kappen konnte. Er suchte sich ihre IP-Adresse von Alice heraus, tarnte sich als freundliches Wartungsprogramm und pingte ihren Server. Ohne etwas zu ahnen, öffnete Alice einen Port und ließ ihn ein. Sofort ergriff der Amerikaner die Chance und drang mit einem Trojaner in ihren Server ein, um sie endgültig von der Festplatte zu löschen. Siegessicher hinterließ er ein "Game Over" auf dem Bildschirm und loggte sich aus.

Schockiert kamen die Net-Zwerge aus dem Standby wieder und sahen, was passiert war. Doch auch diesmal erkannten sie rechtzeitig, wie sie Alice helfen konnten. Sie entfernten den Trojaner, spielten ein Backup ein und luden Alice wieder in den Arbeitsspeicher. Noch ein wenig benommen erzählte Alice ihnen von den Verheißungen des Amerikaners und wie er sie heruntergefahren hatte. Wieder ermahnten die Net-Zwerge Alice zu mehr Vorsicht. "Lass niemals deine Ports offen stehen!" sagten sie und installierten eine Firewall, um ihren Server zu schützen.

Ein weiteres Mal stellte der Amerikaner seine Frage: "Spiegel-Online an der Wand, wer ist der schnellste im ganzen Land?" Und wieder klang die Antwort wie ein monotones Copy & Paste in seinem Headset: "Großer Amerikaner, Ihr seid der schnellste hier! Doch Alice, hinter den sieben Routern, bei den sieben Net-Zwergen ist noch tausend mal schneller als Ihr!" Außer sich vor Zorn griff der Amerikaner zum letzten Mittel, das ihm noch in den Sinn kam. In seinem Keller lagerten noch einige alte Disketten. Er nahm eine davon und infizierte sie mit einem Virus, der Alice endgültig löschen sollte. Dann machte er sich auf den Weg hinter die sieben Router, wo er sich als Techniker ausgab. Unbemerkt schob er die Diskette ins Laufwerk und lud das Programm. Bevor Alice merkte, wie ihr geschah, war es schon zu spät. Das Virus überschrieb ihren Masterbootsektor und löschte sie aus dem Speicher. Ihr warmes Lächeln wich einem blinkenden Totenkopf. Hämisch lachend machte sich der Amerikaner auf den Heimweg.

Als die Net-Zwerge sahen, dass Alice nicht mehr online war, versuchten sie alles, um sie neu zu starten. Doch weder der Affengriff noch ein Reset halfen, um Alice wieder zu booten. Traurig beschlossen sie, ihr die letzte Ehre zu erweisen und sie zu einem Elektronikverwerter zu bringen, damit sie zwischen 386ern und lange vergessenen Tamagotchis ihre letzte Ruhe finden würde. Als der Verwerter ihr bleiches Gehäuse sah, war nur noch ein schwacher Schimmer ihrer einstigen Datenrate zu erahnen. Dennoch fand er sofort Gefallen an ihr. Als er ihr Gehäuse berührte, betätigte er versehentlich den Auswurfknopf des Diskettenlaufwerkes und die infizierte Diskette kam heraus. Als die Net-Zwerge das sahen riefen sie sofort: "Damit hat der Amerikaner sie zum Absturz gebracht!" Der Verwerter nahm eine Bootdiskette, legte sie Alice ins Laufwerk, bootete und erstellte einen neuen Masterbootsektor für sie. Er und die Net-Zwerge freuten sich sehr, als Alice wieder online kam. Und da dem Verwerter ihre Benutzeroberfläche so gut gefiel, beschloss er sogleich, sie auf allen Servern zu installieren, damit sie von dem an gemeinsam durch das Netz surfen konnten.

Der Amerikaner hörte davon und er war so außer such vor Wut, dass er in unzähligen Foren in jeder Ecke des Webs spamte und flamte. Seine Leitungen glühten voller hasserfüllter Mails und Newsgroup-Beiträge. Er postete soviel, dass seine Gateways es nicht mehr aushielten, ihren Dienst versagten und er für alle Zeiten offline blieb.