Beiss mich!

Wolken zogen am vollen Mond vorüber, als ich das Tor zum Friedhof durchschritt. Es war ein merkwürdiger, ein unheimlicher Treffpunkt für eine Verabredung - sogar für ein Treffen mit einer Vampirdame... Doch Bethany hatte mich darum gebeten - und wie könnte ich ihr einen Wunsch abschlagen? Ich mochte sie, daran bestand kein Zweifel, und ich hatte das Gefühl, dass sie auch für mich eine gewisse Zuneigung empfand, obwohl sie es nie direkt zeigte. Doch so war es schon bei unserer ersten Begegnung, in jener Herbstnacht, als ich spät abends von einer Reise Heim kam. Zwei junge, betrunkene Vampire fielen mich an. Doch zum Glück war Bethany da. Sie ging dazwischen, wies die beiden in ihre Schranken und belehrte sie, dass man nicht zum Spaß tötet. Von diesem Moment an war etwas besonderes zwischen uns. Ich konnte es nicht in Worte fassen, doch es bestand eine sehr enge Verbindung, die sich zwischen zwei so unterschiedlichen Wesen entwickelt hatte.

"Hallo Joseph..." sagte Bethany, die plötzlich hinter mir stand. Sie hatte die Fähigkeit - und die Angewohnheit - völlig unerwartet aus dem Nichts zu erscheinen und genau so plötzlich wieder zu verschwinden. Ich hatte mich einigermaßen daran gewöhnt, doch sie jagte mir immer wieder einen Schrecken ein und schien das zu genießen. "Beth..." sagte ich und sah sie an. Der Mondschein erhellte ihr blasses Gesicht und spiegelte sich in ihren geheimnisvollen Augen wider. Ihre schwarz-roten Haare, die bis zu ihren Hüften reichten, glänzten silbrig im Mondlicht. "Schön dich zu sehen... Du siehst gut aus." fügte ich noch hinzu. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre purpurfarbenen Lippen. "Du bist und bleibst ein Charmeur..." erwiderte sie mit dieser sanften Stimme, die ich so sehr mochte. "Komm mit mir!", sagte sie und nahm mich an der Hand, "Ich möchte dir etwas zeigen."

Bethany führte mich zu einem abseits gelegenen Teil des Friedhofs, an dem schon lange keine Bestattungen mehr stattgefunden hatten. Die meisten Gräber waren verwildert und von Unkraut überwuchert. Doch mitten zwischen ihnen war ein Grab, das offenbar erst kürzlich gepflegt worden war. "Jede Nacht bin ich hier." sagte Bethany, kniete sich neben das Grab und entfernte das Unkraut, das am Rand zu wachsen begann. Ich las die Inschrift des Grabsteins, die von der Witterung kaum noch zu erkennen war: John und Lilian McEvans, beide am gleichen Tag gestorben. Mir fiel ein, dass Bethanys Familienname ebenfalls McEvans lautete. "Deine Eltern...?" fragte ich vorsichtig und sah zu der jungen Vampirin, die sich liebevoll um das Grab kümmerte. Sie nickte. "Ja, das sind sie."

Bethany stand auf und setze sich auf eine Bank in der Nähe. Ihr Blick war ausdruckslos und leer, als sähe sie in eine endlose Ferne. Ich setzte mich zu ihr und legte meine Hand auf ihre. Sie blickte zu mir auf und lächelte leicht. "Du hast mir nie von ihnen erzählt..." sagte ich, um das Schweigen zu brechen. "Das stimmt." sagte Bethany leise, "Das habe ich niemandem." Sie machte eine lange Pause, bevor sie fortfuhr. "Es war eine Herbstnacht, genau wie die Nacht, als wir uns begegnet sind. Ich war damals fünfzehn und eine der wenigen Jungfrauen in unserem Dorf. Ich lag in meinem Bett, doch ich konnte nicht schlafen, weil der Wind an den Fenstern rüttelte. Plötzlich sah ich ihn. Er war groß, hatte dunkle Haare und noch dunklere Augen. Auf einmal stand er mitten in meinem Zimmer und sah mich an. Sein Blick war so furchteinflößend, dass ich am liebsten laut geschrien hätte, aber ich konnte es nicht. Ich wollte mich unter der Decke verkriechen, aber ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Als er auf mich zukam, klangen seine Schritte wie das Ticken einer Uhr, die meine letzte Stunde verkündete. Doch als er neben meinem Bett stand, kam mein Vater herein. Er hatte sein Gewehr dabei und schoss auf den Mann, doch er starb nicht daran. Stattdessen wandte er sich um, stürzte auf meinen Vater zu und tötete ihm mit einem Biss in den Hals. Meine Mutter kam nach oben gelaufen und versuchte, ihn mit einer Axt zu erschlagen, doch er riss sie ihr einfach aus der Hand und tötete sie auf die gleiche Weise wie meinen Vater. Erst jetzt wurde mir klar, was er war. Doch er trank ihr Blut nicht - er hatte sie nur aus Vergnügen getötet. Einzig und allein mein Blut war es, das er wollte, das Blut einer Jungfrau. Nichts ist verlockender für einen Vampir. Ich war so starr vor Angst, dass ich mich nicht wehren konnte, als er mir in den Hals biss. Die Schmerzen waren unerträglich, mein ganzer Körper schien zu brennen, als er das Leben aus mir saugte. Doch nicht nur Durst war in seinem Biss zu spüren - es war auch Begierde. Er hätte sich wohl noch viel mehr von mir genommen als mein Blut, wären nicht die anderen aus dem Dorf mit Fackeln auf unser Haus zugelaufen. Als er das bemerkte, ließ er von mir ab und verschwand mit dem Versprechen, dass wir uns eines Tages wiedersehen würden. Ich lief zum Fenster, rief um Hilfe - doch als die anderen sahen, was aus mir geworden war, setzten sie unser Haus in Brand. Mir blieb nichts anderes übrig, als aus dem Fenster zu springen und in die Nacht zu fliehen."

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Minutenlang schwiegen wir einander an. "Er ist wieder hier." sagte Bethany schließlich. "Ich kann es spüren, ganz deutlich. Auf den Tag genau nach 250 Jahren ist Eliah zurückgekehrt, der Vampir der meine Eltern tötete und mich zu dem machte, was ich jetzt bin. Und er ist gekommen, um sich zu holen, was er damals nicht bekommen konnte." Ich schluckte. "Das darf nicht passieren..." Bethany sah mir in die Augen. "Das wird es auch nicht! Ich weiß, wie wir Eliah besiegen können... Aber ich brauche deine Hilfe." Ich war ganz Ohr. "Was kann ich tun?" fragte ich ungeduldig. Bethany erklärte mir ihren Plan. "Es gibt nur zwei Möglichkeiten, einen Vampir zu töten: Man verbrennt ihn oder schlägt ihm den Kopf ab. Für beides habe ich vorgesorgt." Bethany stand auf und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir gingen ein Stück über den Friedhof, bis wir eine alte Eiche erreicht hatten. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie hohl war. Bethany griff hinein und nahm zwei Anderthalbhänder sowie einen Kanister mit Petroleum heraus. Ich sah mir die beiden Schwerter genau an. Sie glänzten wie frisch geschmiedet und ihre Griffe waren mit Fledermäusen verziert. Bethany gab mir eines davon. Es lag sehr gut in der Hand und ich übte ein wenig damit. "Ich weiß genau, wo er mich suchen wird", fuhr Bethany fort. "Genau an dem Ort, wo damals unser Haus stand. Dort werden wir auf ihn warten. Es ist nicht weit von hier." Gemeinsam machten wir uns auf den Weg.

Als wir an unserem Ziel angekommen waren, deutete nicht viel darauf hin, dass sich dort einmal ein Haus befunden hatte. Das Grundstück gehörte nun zu einem Schrottplatz, der von der Gemeinde betrieben wurde. Mit einem Satz sprang Bethany über den Zaun, der sicher über zwei Meter hoch war, um das Tor von innen zu öffnen. Ich folgte ihr hinein und sah mich um. Überall waren Berge von ausgedienten Metallteilen, die genug Möglichkeiten für einen Hinterhalt boten. "Versteck dich!" rief Bethany. "Ich kann spüren, dass er gleich hier sein wird - und er soll denken, ich wäre allein." Ich tat, wie sie mir geheißen hatte, und suchte mir ein Versteck ganz in ihrer Nähe, damit ich das Geschehen im Auge behalten konnte. Bethany sah sich um. Sie atmete tief ein und versuchte, Eliahs Geruch wahrzunehmen. Doch der Wind verwischte seine Spuren.

"Bethany..." sagte Eliah, der genau so plötzlich aufgetaucht war, wie Bethany es tu tun pflegte. "Meine geliebte Bethany... Endlich bist du bei mir..." Langsam ging er auf sie zu. Bethany zog ihr Schwert und hielt es an seine Kehle. "Komm mir nicht zu nahe!" sagte sie zornig. "Aber, aber, meine Liebe..." entgegnete Eliah betont sanftmütig. "Ich will dir doch nichts böses... Das wollte ich nie... Merkst du denn nicht, dass ich dir viel mehr geschenkt habe, als du dir je hättest erträumen können? Das habe ich alles nur für dich getan, nur für dich allein..." Er wollte weiter auf sie zugehen, doch mit einem Schnitt in seinen Hals machte Bethany ihm klar, wie ernst sie es meinte. Dunkelrotes Blut lief aus seiner Wunde, die jedoch sofort wieder verheilte. "Du willst also mit mir kämpfen..." sagte Eliah und lächelte siegessicher. Er zog sein Schwert und sah in ihre Augen. "Dann kämpf, meine Geliebte!"

Die beiden Vampire gingen mit ihren Schwerten aufeinander los. Eliah kämpfte sehr gut, doch Bethany war schneller und konnte jede seiner Attacken parieren. Dennoch schaffte sie es nicht, ihm nahe genug zu kommen, um ihn ernsthaft zu verletzen. Viel zu gut wusste der erfahrene Kämpfer mit seinem Schwert umzugehen. Ich spürte, dass es an der Zeit war, einzugreifen. Ich nahm das Schwert und lief auf die beiden zu. Bethany sah kurz zu mir herüber - doch sehr schnell bereute sie es. Eliah nutzte diesen Moment, um ihr das Schwert aus der Hand zu schlagen. Die Wucht seines Hiebes war so groß, dass es dabei in zwei Teile zerbrach. Bethany stürzte zu Boden und fiel dabei so unglücklich in einem Haufen von Metallteilen, dass eine Eisenstange ihren Brustkorb durchbohrte. Voller Hass auf den alten Vampir holte ich mit meinem Schwert aus und wollte gerade zuschlagen, als er sich umdrehte und auch mein Schwert mit einem mächtigen Hieb zertrümmerte. "Glaubst du etwa, ich rieche dich nicht, Sterblicher?" sagte er und sah mich aus seinen tiefschwarzen Augen an. "Lass ihn!" rief Bethany, der es schwer fiel, zu sprechen. "Er ist kein Gegner für dich... Du willst mich - also komm und hol dir, was dein ist!" Eliah wandte sich ihr zu. "Wie niedlich... Du sorgst dich wohl um dein Spielzeug..." Wut brannte in Bethanys Augen. Am liebsten hätte sie Eliah auf der Stelle zerfleischt, doch sie konnte sich kaum rühren. Langsam ging er auf sie zu. Ich tat so, als würde ich fliehen, doch ich lief zurück zu meinem Versteck. Ich öffnete den Kanister mit dem Petroleum und verteilte ein paar Tropfen davon auf meinem Körper, um meinen Geruch zu überdecken. Dann lief ich wieder zu Eliah, der sich über Bethany gebeugt hatte. Diesmal bemerkte er mich zu spät um zu verhindern, dass ich das Petroleum über seinen Körper goss. Doch bevor ich es anzünden konnte, drehte er sich herum und schlug mir das Feuerzeug aus der Hand. "Dafür wirst du bezahlen, Sterblicher!" rief er voller Zorn und stürzte auf mich zu, doch ich konnte ihm ausweichen. Mein Blick war auf seine Fangzähne gerichtet, die nur darauf zu warten schienen, dass er sie in meinen Hals schlug. Aber Eliah schien das zu spüren - blitzschnell zog er einen Dolch heraus und warf ihn auf mich zu, wo er in meiner Brust stecken blieb. Schmerzerfüllt sank ich zu Boden. "Eliah!" rief Bethany, die sich die Eisenstange aus der Brust gezogen hatte. Er drehte sich zu ihr um. In ihrer Hand hielt sie das Feuerzeug, das er mir aus der Hand geschlagen hatte. "Fahr zur Hölle!" rief sie und warf es in die Petroleumspur, die er unbemerkt hinter sich her gezogen hatte. Wie an einer Zündschnur rasten die Flammen auf ihn zu und hüllten seinen Körper ein. Ein letztes mal schrie er vor Schmerzen auf, bevor er zu einem Haufen lebloser Asche zerfiel.

Bethanys Kräfte kehrten wieder zurück, als ihre Wunden heilten. So schnell sie konnte lief sie zu mir. Die Klinge steckte noch immer tief in meiner Brust, als sie mich erreichte. "Joseph!" rief sie, voller Sorge. Sie kniete sich neben mich und legte sanft ihre Hände unter meinen Kopf und meinen blutüberströmten Oberkörper, um ihn etwas anzuheben. "Oh Joseph... Wie konnte ich dich nur in das hier reinziehen... Bitte verzeih mir..." Es war das erste Mal, dass ich Tränen in ihren hübschen Augen sah. "Beth..." sagte ich mit schwacher Stimme. "Bitte... Beiss mich..." Mit besorgtem Blick sah sie mich an. "Joseph... Du weißt nicht, wie es ist..." - "Bitte... Tu es... Es ist... die letzte... Chance..." sagte ich leise und kämpfte dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren. Bethany schluckte. Doch sie wusste, dass ich Recht hatte. Sie leckte über ihre spitzen Fangzähne - und schlug sie mir in den Hals.

Ein heftiger Schmerz riss mich aus der dämmernden Bewusstlosigkeit. Er wurde immer stärker, je mehr sich Bethany in meinen Hals verbiss. Ich konnte spüren, wie sie das Blut aus meinen Adern trank. Es war, als würde sie mir alles Leben aus dem Körper saugen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es genau das war, was sie tat. Die Schmerzen begannen, von meinem Hals durch meinen ganzen Körper zu fließen. Als sie den Dolch in meiner Brust erreichten, war es, als würde er in Flammen stehen und mich von innen heraus verbrennen. Doch ich war nicht einmal in der Lage zu schreien, so fest hatte Bethany meinen Hals zwischen ihren Zähnen. Ich konnte nur abwarten und hoffen, dass es bald vorbei war. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis Bethany ihren Biss lockerte und meinen kraftlosen Körper zu Boden sinken ließ, wo mir meine Schmerzen das Bewusstsein raubten.

Als ich meine Augen wieder öffnete, kniete Bethany noch immer auf dem Boden. Sie hatte meinen Kopf in ihren Schoß gelegt und streichelte sanft über meine Wangen. Schon öfter hatten wir einander berührt, doch niemals zuvor konnte ich ihre Nähe so deutlich spüren. Hatte ich früher noch das Gefühl, einen kalten, leblosen Körper zu berühren, so war ihre Berührung nun warm und liebevoll. Sie ließ mich all den Schmerz vergessen, der gerade noch von meinen Gliedern Besitz ergriffen hatte, wenn auch nur für einen Moment. Doch noch etwas war anders: Zum ersten Mal konnte ich Bethanys Geruch wahrnehmen. Es war ein schwer zu beschreibender, eigentümlicher Geruch, den ich mit nichts vergleichen konnte, das ich kannte, und dennoch erschien er mir in diesem Moment so vertraut. Er gab mir das Gefühl, an dem Ort zu sein, an den ich gehöre.

"Alles wird gut..." sagte Bethany leise, als sie bemerkt hatte, dass ich wieder wach war. Ihre Stimme klang dabei noch angenehmer, noch zärtlicher als zuvor. Ich blickte in ihre Augen, die wie Feuer zu funkeln schienen. Doch ihr Blick strahlte keine Aggression aus - es war das Feuer ihrer unsterblichen Seele, das sich in ihren Augen widerspiegelte und das ich nun spüren konnte. "Ich weiß..." sagte ich leise, denn ich konnte mir in diesem Moment keinen schöneren Ort vorstellen, an dem ich hätte sein wollen. Sehr zärtlich streichelte sie über die Narben an meinem Hals und meiner Brust. Es tat so gut, ihre Berührung zu spüren. Es war fast, als könnte sie alles damit ungeschehen machen. Vorsichtig half mir Bethany auf. "Du bist jetzt einer von uns..." sagte sie und sah mich an. Ich nickte. "Ja... Jetzt bin ich wie du." Bethany lächelte und nahm sanft meine Hand. "Mehr noch..." sagte sie, "Von nun an... sind wir eins."