Es war ein Montag im Herbst, mein erster Arbeitstag seit langem. Ich hatte das Gefühl, ein wenig eingerostet zu sein. Andererseits war es auch ein langer Tag gewesen. Ich kam erst gegen Abend nach Hause und hatte keinen großen Elan, mir etwas aufwändiges zu Essen zu bereiten. Etwas Brot musste reichen. Beim Essen dachte ich darüber nach, wie ich den Tag am besten ausklingen lassen könnte. Ich hatte mir gerade ein Buch ausgeliehen und so beschloß ich, gleich darin zu lesen. Also goss ich einen Tee auf, drehte die Heizung ein wenig höher und machte es mir bequem. Ich schlug das Buch auf, erstes Kapitel. Dann nahm ich die Teetasse...
Ding-Dong! Die Türklingel störte meine Gedanken. Ich stellte die Tasse wieder auf den Tisch, legte das Buch bei Seite und ging zur Tür. Wer um alles in der Welt sollte mich besuchen, und das auch noch am Abend? Gespannt öffnete ich die Tür. Meine Nachbarin lächelte mich an. Sie bat mich, ihr ein Buch zu leihen, von dem ich ihr vor einiger Zeit erzählt hatte. Ich freute mich über ihr Interesse und bat sie herein. Wir unterhielten uns kurz über den Fortschritt ihres Studiums, während ich das Buch aus dem Regal suchte. Ich drückte es ihr in die Hand und brachte sie noch zur Tür. Dann begab ich mich zurück zu meinem Sessel, dem Buch und der Tasse Tee. Ich machte es mir bequem, schlug das Buch auf und griff nach der Tasse.
Bum-Bum-Bum... Mein Zimmergenosse liebte Techno, ganz im Gegensatz zu mir. Seine Stereoanlage war durch die dünne Wand mehr als deutlich zu hören und zerrte an meinen Nerven ebenso wie an meiner Einrichtung. Ich schlug das Buch zu und legte es auf den Tisch. Etwas gereizt ging ich zu ihm und klopfte an seine Tür. Keine Reaktion. Ich klopfte lauter und rief ihn. Schließlich öffnete er die Tür, worauf der Krach aus seinem Zimmer noch lauter in meine Ohren drang. Erst als er mich sah, stellte er die Lärmquelle ab. Er beteuerte, dass er mich noch im Urlaub wähnte und daher etwas lauter Musik gehört hatte. Noch immer etwas genervt begab ich mich zurück in mein Zimmer, um mich endlich meinem Buch widmen zu können. Der Tee war inzwischen nur noch lauwarm. Ich griff nach dem Buch.
Diesmal war es das Telefon, das meine Gedanken unterbrach, noch bevor ich das Buch aufschlagen konnte. Ich legte es wieder hin und nahm den Hörer ab. Eine junge Frau meldete sich. Sie sagte mir, ich könne nun kostenlos an einer Umfrage teilnehmen und hätte dabei die Chance auf sensationelle Gewinne. Ich erklärte ihr, dass ich kein Interesse habe. Sie riet mir, es einfach zu versuchen, schließlich könne ich ein Traumhaus gewinnen und innerhalb einer Woche Millionär werden, ganz abgesehen von der Sofortrente... Entnervt sagte ich ihr, sie solle doch selbst daran teilnehmen, wenn die Gewinne so toll seien, anstatt andere damit zu nerven. Dann legte ich auf und begab mich wieder zu meinem Sessel. Ich nahm einen Schluck Tee, der inzwischen nicht mehr besonders schmeckte. Dann schlug ich das Buch auf und begann, darin zu lesen.
Ding-Dong! Schon wieder die Türklingel! Gefällt ihr das Buch etwa nicht? Egal, dann soll sie es mir eben wieder zurückgeben. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Doch diesmal stand eine andere Mitbewohnerin vor der Tür, zu meiner Verwunderung mit einem Bademantel bekleidet. Sie beklagte sich darüber, dass ihr Computer nicht ganz das tat, was er sollte und bat mich um Hilfe. Ich holte meinen Schlüssel und begleitete sie in ihr Zimmer. Auf ihrem Nachttisch stand ein Laptop sowie eine Webcam. Sie erklärte mir, dass die Webcam nicht funktioniert. Ich stöpselte sie hin und her und installierte den Treiber neu, während sie auf dem Bett saß und mir dabei zusah. Nach einer ganzen Weile und zwei Neustarts funktionierte es dann und das Bild war auf dem Rechner. Sie fragte, ob es denn auch mit ihrer Software funktionieren würde und tippte ein paar Dinge in den Computer. Freudestrahlend sah sie mich an. Dann erzählte sie mir, dass sie seit kurzem für einen Livecam-Anbieter arbeitet. Sie bot mir an, ihr dabei zuzusehen, sozusagen als Dank für meine Hilfe, und öffnete ihren Bademantel. Ziemlich genervt lehnte ich das Angebot ab und ging zurück in mein Zimmer. Der Tee war inzwischen kalt geworden und ich ging in die Küche, um ihn wegzugießen.
Schon wieder klingelte das Telefon. Ich nahm ab und brüllte in den Hörer: "Was ist?" Der Mann am Telefon sagte mir, er sei von der Bibliothek und mache gerade eine Umfrage über die neuen, vereinfachten Ausleihbedingungen. Zudem fragte er mich, wie mir das Buch gefallen würde, das ich vorhin ausgeliehen hätte. Wütend schrie ich ihn an: "Wenn Sie Zeit zum Lesen haben, dann lesen Sie es doch selbst!" Ich knallte den Hörer auf und riss das Telefonkabel aus der Wand. Dann steckte ich das Buch wieder in meine Tasche, setzte mich in den Sessel und schaltete den Fernseher ein. "Typisch", dachte ich mir, "Es ist doch jeden Abend das gleiche."