Der dunkle Doktor

Judith war ziemlich aufgeregt. Es war ihr erster Tag im neuen Job, ihrem Traumjob. Schon lange hatte sie sich darauf gefreut, eigentlich ihr ganzes Studium lang, und nun war es endlich so weit. Sie hielt nicht nur ihr Diplom in der Hand, sondern auch den Arbeitsvertrag, der ihr eine Anstellung an einem der größten Forschungszentren der Welt sicherte. Schon als Kind wollte Judith Physikerin werden, und zwar nicht irgendeine, sondern Teilchenphysikerin. Endlich hatte sie es geschafft. Sie lief die Straße entlang, die der Pförtner ihr genannt hatte - so schnell sie konnte, denn es regnete in Strömen. Ausgerechnet heute. Ausgerechnet ihr erster Arbeitstag war ein nasser, verregneter Augusttag. Zum Glück war es nicht kalt, aber Judith wäre doch lieber trocken zur Arbeit erschienen. Sie fragte sich, was es wohl für einen Eindruck machen würde, wenn sie am ersten Tag wie ein begossener Pudel erschien. Völlig außer Atem erreichte sie das Gebäude 25, in dem sie sich melden sollte, verschnaufte einen Moment und strich ihre klitschnassen, schulterlangen blonden Haare zurück.

"Judith Keller?" fragte eine Männerstimme hinter ihr. Judith erschrak und wirbelte so schnell herum, dass sie fast mit ihm zusammenstieß. "Ja...?" sagte sie leise. Ein Mann mit braunen Haaren und Schnurrbart lächelte sie an und reichte ihr die Hand. "Johannes Wunderlich" stellte er sich vor, "Ich leite die Teilchenphysikgruppe. Ab sofort, Hannes." Judith lächelte. Sie war es nicht gewohnt, dass ihr neuer Chef sich gleich mit Vornamen vorstellte. "Judith Keller" sagte sie und schüttelte seine Hand, "Also... Judith." fügte sie hinzu. Hannes sah seine neue Mitarbeiterin an, die von oben bis unten durchgeweicht war. "Hast du keinen Regenschirm dabei?" fragte er verwundert. Judith schüttelte den Kopf. "Als ich losgegangen bin, schien die Sonne - der Regen kam ganz plötzlich." Hannes nickte. "Ja, diese Sommergewitter... Die kommen und gehen... Das ist schon alles etwas seltsam." sagte er mit einem geheimnisvollen Unterton in der Stimme, den Judith nicht ganz deuten konnte. Doch bevor sie nachfragen konnte, was Hannes damit meinte, wechselte er das Thema und bot ihr eine kleine Führung durchs Institut an. Ohne lange zu zögern stimmte Judith ihm zu.

Das Institut war noch größer, als Judith es sich vorgestellt hatte. In verschiedenen Werkstätten und Laboren wurden supraleitende Spulen, magnetische Linsen und Resonatoren hergestellt und getestet - alle für den Bau und den Betrieb von Teilchenbeschleunigern notwendigen Komponenten. Die meisten davon kannte sie bereits, und wenn sie etwas nicht kannte, scheute sie nicht, ihren neuen Chef Löcher in den Bauch zu fragen, der ihren unbändigen Wissensdurst nur mit Mühe stillen konnte. "Gleich erreichen wir das wichtigste Gebäude von allen." sagte Hannes, als sie nach einer ganzen Weile einen Hügel hinaufgingen. "Das Kontrollzentrum?" fragte Judith neugierig. Hannes lachte. "Nein, die Kantine. Von der ganzen Rumrennerei bekommt man ja Hunger. Am besten essen wir erst mal was, und dann zeige ich dir deinen Arbeitsplatz."

Judith konnte kaum erwarten, endlich ihren Arbeitsplatz zu sehen, aber sie war mindestens genau so hungrig wie ihr Chef. Nach dem Essen zeigte er ihr ein Büro, in dem außer einem Schreibtisch samt Computer mehrere Regale mit Büchern und Ordnern standen. An der Wand hing eine Tafel. "Hier kannst du lesen, grübeln, studieren, rechnen, zeichnen, schreiben und was sonst noch alles für deine Aufgabe an theoretischer Vorarbeit nötig ist. Die Labore sind ein paar Stockwerke tiefer, aber da ist noch nicht viel los, weil die Experimente noch in der Planungsphase sind. Am besten machst du dich schon mal mit den Grundlagen vertraut und arbeitest dich in die einzelnen Experimente ein. Dann sehen wir weiter. Die Unterlagen dazu findest du hier drüben." Hannes deutete auf eines der Regale, in dem ein paar dicke Bücher standen. Judith nickte. Sie sah sich um. Es war genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Ein kleines Büro, völlige Abgeschiedenheit und viele Bücher. "Wenn du noch etwas brauchst, sag Bescheid. Du findest mich im Telefonverzeichnis." fügte Hannes noch hinzu, bevor er sich wieder auf den Weg in sein Büro machte. Judith atmete tief durch, nahm das erste Buch aus dem Regal und setzte sich an den Schreibtisch. "Na dann mal los..." sagte sie zu sich selbst, schlug es auf und begann zu lesen.

Das Studium der Pläne und Berechnungen fesselte Judith so sehr, dass sie gar nicht merkte, wie schnell die Zeit verging. Sie sah auf die Uhr: Es war später Nachmittag. Judith fragte sich, ob das kleine Cafe neben der Kantine noch geöffnet hatte, das sie am Mittag entdeckt hatte. Draußen regnete es in Strömen, es blitzte und donnerte. Sie erinnerte sich daran, dass Hannes ihr von einem Verbindungstunnel zwischen ihrem Gebäude und der Kantine erzählt hatte, und griff zum Telefon. Doch als sie gerade seine Nummer wählen wollte, überlegte sie es sich doch anders, und beschloss, sich selbst auf die Suche nach dem Verbindungsweg zu machen. So viele Möglichkeiten konnte es schließlich nicht geben. Sie schnappte ihre Tasche, schloss das Büro ab und ging zum Fahrstuhl. Es gab zwei Kellergeschosse - Judith entschied sich für das untere davon. Dort angekommen fand sie sich in einem langen, von Leuchtstofflampen beleuchteten Gang wieder. Das musste der Tunnel sein, den sie gesucht hatte. Ein wenig unheimlich sah es schon aus, aber als Wissenschafterin machte ihr das nichts aus. Glücklich darüber, gleich beim ersten Versuch den Weg gefunden zu haben, ging sie den Gang entlang.

Der Gang war länger als Judith den Weg zur Kantine in Erinnerung hatte. Von Zeit zu Zeit flackerte das Licht, gefolgt von einem dumpfen Donnern, das tief unter der Erde nur gedämpft zu hören war. Judith hatte das Gefühl, sie würde Schritte hören. Sie hielt an und drehte sich um, doch es war niemand zu sehen. "Hallo? Ist da jemand?" rief sie den Gang entlang, doch sie bekam keine Antwort. Sie lauschte - nichts. Langsam ging sie weiter. Plötzlich waren wieder Schritte zu hören, diesmal schienen sie näher zu sein. Wieder drehte sich Judith sich um und erschrak, als plötzlich ein Mann vor ihr stand. Er war groß, schlank, trug einen schwarzen Hut und einen schwarzen Mantel, außerdem eine altmodische Hornbrille. Vor allem aber fiel Judith sein gezwirbelter Bart auf. Vor Schreck machte sie einen Schritt zurück, obwohl er eher freundlich als bedrohlich wirkte. "Müssen Sie mich so erschrecken?" fragte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. "Entschuldigung, junge Dame." sagte der sonderbare Mann. "Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Ich suche den Weg zum Labor 64c." fügte er hinzu. Judith sah ihn etwas irritiert an. "64c..." überlegte sie. "Nein, das weiß ich nicht... Ich komme von Gebäude 25, das ist in der Richtung." Sie deutete in die Richtung, aus der der Mann plötzlich aufgetaucht war. "Und da geht es zur Kantine..." Sie blickte in die andere Richtung. "Zumindest glaube ich das... Wissen sie zufällig, ob..." Judith drehte sich wieder zu dem Mann um und stockte - er war nicht mehr da. Auf einmal war er spurlos verschwunden. Sie hatte nicht einmal mehr seine Schritte gehört. Nun wurde es ihr wirklich unheimlich. So schnell sie konnte rannte sie den Gang entlang, bis sie wieder an einem Fahrstuhl ankam und nach oben fahren konnte.

Zu ihrer Erleichterung kam Judith tatsächlich im Kantinengebäude heraus. Auch das kleine Cafe, das sie gesucht hatte, war noch geöffnet. Sie beschloss, den Schrecken mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kakao zu verdauen, der ihr noch immer tief in den Knochen steckte. Auch der jungen Kassiererin, die etwa so alt war wie Judith, entging das nicht. "Was ist denn mit Ihnen passiert? Haben Sie einen Geist gesehen?" fragte sie etwas besorgt. Judith nickte. "Genau so fühle ich mich... Ich bin durch den Kellergang hergekommen, dann war da plötzlich so ein Mann mit schwarzem Hut und Mantel, mit so einem komischen Bart... Und auf einmal war er wieder weg." Die Kassiererin kicherte. "Und er wollte zu irgendeinem Labor, stimmts?" fragte sie. Verblüfft sah Judith sie an. "Ja, genau, woher wissen sie das?" fragte sie ganz erstaunt. Die Dame an der Kasse stützte sich auf den Tresen und begann zu erzählen. "Da hat Ihnen bestimmt jemand einen Streich gespielt... Angeblich soll es hier wirklich mal einen Physiker gegeben haben, der genau so aussah - er trug immer einen schwarzen Hut und hatte so einen seltsamen Bart. Gearbeitet haben soll er in Labor 64c, aber woran genau, weiß ich nicht. Es heißt, in einer Gewitternacht sei er auf einmal spurlos verschwunden. Zuerst hat man gemunkelt, er wäre ins Ausland abgehauen. Aber dann kamen immer mehr Gerüchte auf, er würde bei Gewitter als Geist durch die Gänge spuken. Irgendwann hat man sein altes Labor geschlossen, weil niemand außer ihm wusste, wie die Geräte dort funktionierten. Angeblich spukt der 'dunkle Doktor', wie ihn hier alle nennen, noch immer bei Gewitter herum und sucht sein altes Labor."

Judith lief ein kalter Schauer über den Rücken. Eigentlich machten ihr Schauergeschichten nicht viel aus, aber das war ihr wirklich unheimlich - vor allem, weil sie den "dunklen Doktor" ja gerade erst gesehen hatte, oder zumindest jemanden, der sich so verkleidet hatte. "Aber das sind alles nur Märchen." lachte die junge Kassiererin, "Das war bestimmt irgendein Kollege, der sich einen Scherz erlaubt hat." Judith nickte langsam. "Ja... ja, da haben Sie Recht, sowas wie Geister gibt es ja nicht." sagte sie, um es sich selbst klar zu machen. Sie setzte sich an einen Tisch, aß ihren Kuchen und dachte darüber nach, was sie gesehen hatte. Wenn es irgendein Scherzkeks war... wie war er so schnell aufgetaucht, und vor allem, lautlos wieder verschwunden? Fliegen konnte er schließlich nicht, und seine Schritte hätte sie doch hören müssen... Sie kam zu keinem sinnvollen Ergebnis. Aber ein Geist? Nein, das war ausgeschlossen, sowas war unmöglich. Was auch immer sie gesehen hatte, musste eine rationale, physikalische Erklärung haben. Aber welche?

"Darf ich mich dazusetzen?" fragte Hannes, der auf plötzlich genau so überraschend vor Judith stand wie der geheimnisvolle Fremde im Tunnel - aber wohl eher deshalb, weil sie völlig in ihren Gedanken versunken war. "Äh... ja, bitte." antwortete sie, noch ein wenig verwirrt. "Na, denkst du über das Experiment nach?" fragte Hannes, dem nicht entgangen war, dass Judith mit ihren Gedanken ganz ziemlich abwesend gewesen war. Sie schüttelte den Kopf. Dann erzählte sie von ihrer unheimlichen Begegnung und von dem, was die Dame an der Kasse ihr erzählt hatte. Hannes hörte ihr aufmerksam zu und nickte. "Ja, die Geschichte vom 'dunklen Doktor' kennt hier jeder..." sagte er ruhig. Er beugte sich über den Tisch und fügte leise hinzu: "Ich habe ihn auch schon da unten gesehen." Judith sah ihn mit großen Augen an. "Tatsächlich? Wann war das? Und wie genau ist es abgelaufen? Woher kam er, und wo ist er hin?" fragte sie stürmisch. Hannes bedeutete ihr, etwas leiser zu sein. Dann begann er zu erzählen. "Es war spät abends, bei Gewitter, genau wie heute. Ich hatte gerade Feierabend gemacht und habe den Tunnel zur Kantine genommen, um etwas näher am Ausgang nach draußen zu kommen und nicht so weit durch den Regen gehen zu müssen. Da tauchte er auf einmal auf, wie aus dem Nichts. Er fragte nach dem Weg zu Labor 64c. Als ich ihm erklärte, dass es geschlossen wurde, verschwand er auf einmal, vor meinen Augen! Er löste sich einfach in Luft auf. Wenn mir da wirklich jemand einen Streich gespielt haben soll, hat er es verdammt gut gemacht." Judith rieb ihre Augen. "Aber, wie kann jemand einfach so verschwinden?" fragte sie verblüfft. Hannes zuckte mit den Schultern. "Wahrscheinlich habe ich das nur geträumt, es war schon ziemlich spät und ich war müde... Soll ja vorkommen." Judith schüttelte den Kopf. "Nein, da muss was anderes dahinterstecken... Ich war bestimmt nicht müde, und ich wusste nicht mal was von diesem 'dunklen Doktor', und trotzdem hab ich genau den gleichen Mann gesehen - und er ist auch einfach so verschwunden, ohne ein Geräusch. Das kann doch kein Zufall sein." Hannes lachte. "Du glaubst doch wohl nicht an Geister? Denk dran, wir machen Physik und keine Esoterik!" Doch Judith war schon wieder in Gedanken. "Irgendwas passiert hier... Und ich wüsste zu gerne, was..." Sie trank ihren Kakao aus, stand auf und schnappte sich ihre Tasche. "Kommst du mit?"

Etwas skeptisch folgte Hannes seiner eifrigen neuen Mitarbeiterin. "Gehen wir jetzt auf Geisterjagd?" fragte er. Judith zuckte mit den Schultern. "Ja, so könnte man es wohl nennen - was auch immer wir da finden..." Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den Keller und gingen den Gang entlang. "Hallo, ist da jemand? Hallo, Doktor?" rief Judith. "Wie hieß er eigentlich?" fragte sie Hannes. "Hm... Zacharias, glaube ich... Ja, Doktor Eberhard Zacharias." antwortete er. "Doktor Zacharias, wo sind Sie?" rief Judith den Gang entlang. Doch es kam keine Antwort. "Hier unten ist niemand." stellte Hannes fest, als sie fast am anderen Ende des Ganges angekommen waren. Doch das wollte Judith nicht glauben. "Er muss doch irgendwo sein... Was ist mit dem Gewitter? Gewittert es noch?" Das Flackern der Leuchtstoffröhren, gefolgt von dumpfem Donnergrollen beantwortete ihre Frage. "Vielleicht ist er woanders..." spekulierte sie weiter. "Was ist noch hier unten?" Hannes überlegte. "Naja, ein Stück weiter kommt man in die Experimentierhalle, aber da ist nichts, die steht komplett leer." - "Können wir trotzdem mal hingehen?" fragte Judith und erweckte nicht den Eindruck, als ob sie diese Idee so schnell wieder fallen lassen würde. Also stimmte Hannes ihr zu und zeigte ihr den Weg zur Halle. Als sie durch das Eingangstor gingen, blickten sie in eine riesige, leere Halle. "Siehst du, hier ist nichts." sagte Hannes und wandte sich zum Gehen. Judith sah sich noch einmal um, bevor sie sich ebenfalls in Richtung Tor umdrehte. "Vielleicht suchen wir an der falschen Stelle..." grübelte sie.

"Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wie ich zu Labor 64c komme?" rief eine Männerstimme hinter den beiden. Sie drehten sich um und sahen Doktor Zacharias, der aus der Mitte der Halle auf sie zulief. Völlig irritiert sahen sich die beiden an, um sich zu vergewissen, dass sie beide das gleiche sahen. Als sie wieder in die Halle sahen, war der Doktor verschwunden. "Wo ist er hin? Ist er rausgelaufen?" fragte Judith. Hannes schüttelte den Kopf. "Das kann nicht sein... Schau mal, er war da drüben, oder?" Dann ging er an die Stelle, wo sie den Doktor gesehen hatten. Judith nickte. "Ja, genau da ist er gewesen." Hannes ging direkt auf den nächsten Ausgang zu und zählte dabei seine Schritte. "Wie lange haben wir uns angesehen?" fragte er Judith währenddessen. "Höchstens eine oder zwei Sekunden, aber nicht länger antwortete sie" - "Dann muss der Doktor ein Gepard sein, sonst läuft er in der Zeit keine dreißig Meter." stellte Hannes fest. "Weggelaufen ist er also nicht." Judith sah sich um. "Aber wo ist er dann hin?" fragte sie. Doch auch Hannes wusste keine Erklärung. "Woran hat dieser Doktor Zacharias eigentlich gearbeitet?" fragte sie weiter. "So genau weiß das keiner." musste Hannes zugeben. "Das ganze war ein eigenständiges Projekt, mit eigener Finanzierung, aber ich habe keine Ahnung, woher die Mittel kamen und worum es genau ging. Ich weiß nur, dass es ziemlich viel Energie gebraucht hat und das Stromnetz ein paar Mal zusammengebrochen ist. Angeblich war es irgendein Geheimprojekt, irgendwas militärisches. Aber darüber gibt es nur Gerüchte, genau so wie darüber, was sich in Labor 64c befindet." - "Das existiert noch?" fragte Judith erstaunt. Hannes nickte. "Na dann nichts wie hin!" rief sie und wollte schon loslaufen, doch Hannes hielt sie auf. "Nicht so schnell, das Labor ist versiegelt, da kommen wir gar nicht rein. Außerdem gibts da bestimmt nichts mehr zu sehen." Aber so leicht ließ sich Judith nicht davon abbringen. "Können wir nicht wenigstens mal hingehen? Ich würde es mir wirklich gerne mal ansehen." Hannes seufzte. Es hatte keinen Sinn, mit dieser Frau zu diskutieren. Also führte er sie zum verlassenen Labor 64c.

Der Weg führte sie wieder nach draußen, durch den Regen, zu einem Teil der Geländes, der mit "Kein Durchgang" gekennzeichnet war und dan anscheinend schon lange niemand betreten hatte. Judith schien das Schild gar nicht zu beachten und ging einfach weiter. Hannes folgte ihr. Es war ein sehr unheimlicher Ort. Die beiden waren umgeben von summenden Transformatoren, rauschenden Kühltürmen, langen Rohrleitungen und Kabeln, die an einer Stelle aus dem Erdboden kamen und an einer anderen wieder verschwanden. Warnleuchten und Schilder ließen die Gegend noch unwirtlicher erscheinen, als sie es ohnehin schon war. Auch der Regen wurde immer stärker. "Komm, wir stellen uns da hinten unter, wenigstens bis der Regen etwas nachgelassen hat." schlug Hannes vor und deutete auf einen kleinen Unterstand. Widerwillig stimmte Judith ihm zu, aber nur, weil sie selbst schon nass bis auf die Haut war. Die beiden sahen zum Himmel, der immer wieder von Blitzen erleuchtet wurde. Mit einem Mal schlug ein Blitz in eine der Hochspannungsmasten ein, die von einem großen Transformator zu einem Gebäude in der Nähe führte. Judith und Hannes erschraken und drehten sich um, um nicht von dem gleißenden Licht geblendet zu werden. "Da drüben!" rief Judith und deutete auf eine Gestalt, die im Schein des Blitzes zu sehen war. Auch Hannes sah sie und erkannte, dass es Doktor Zacharias war, der über das Gelände lief. "Doktor Zacharias!" rief er ihm zu. Der Doktor drehte sich zu den beiden um. "Keine Zeit, ich muss ins Labor!" rief er zurück und lief weiter. Judith und Hannes wollten ihm folgen, doch er verschwand auf einmal genau wie der Blitz, der ihn angestrahlt hatte. Als die beiden dort ankamen, wo sie ihn gesehen hatten, war keine Spur mehr von ihm auszumachen.

"Das kann doch nicht sein! Wo ist er? Wo... wo sind wir?" fragte Judith verwirrt. Hannes deutete auf das Schild vor der verketteten Tür: 64c. "Ich glaube, wir sind da, wo wir hinwollten." stellte er fest. Judith sah sich die Kette an. Sie war schon ziemlich alt und rostig. Judith sah sich um und fand schließlich einen Stein. Sie nahm ihn und schlug damit ein paar Mal auf das Schloss, bis es sich schließlich öffnete. Hannes half ihr, die Kette zur Seite zu räumen. "Hier wollte der Doktor hin - also muss hier die Antwort sein." sagte sie, als sie die Tür öffnete. Langsam gingen die beiden hinein und folgten einem Gang zum eigentlich Labor. Es war ein großer Raum, angefüllt mit sonderbaren Geräten. Einige sahen aus wie Spulen, andere wie riesige Linsen, aber nicht aus Glas, sondern aus einem Material, das die beiden nicht erkannten. Alle hatten einen gemeinsamen Brennpunkt, in dem sich eine weitere Spulenanordnung befand. Draußen schlug ein weiterer Blitz in eine der Leitungen ein. Das ganze Labor schien zu beben, als die Energie des Blitzes durch die Leitung floss und von den Spulen und Linsen umgelenkt wurde. Im Fokus der Anordnung bildete sich eine helle, rotierende Lichtkugel. "Endlich!" rief Doktor Zacharias, der plötzlich hinter Judith und Hannes aufgetaucht war. Er drängte sich zwischen den beiden hindurch und sie merkten, dass er nicht nur ein Trugbild war, sondern wirklich anwesend. "Ich muss die Translationskoeffizienten..." sagte er noch, doch dann verschwand er wieder im Nichts, im gleichen Moment, wie der Blitz verlosch.

Judith und Hannes sahen sich um. "In diesen Spulenanordnungen scheint die Energie immer hin und her zu schwingen, mal horizontal, mal vertikal, wie in einer Art Quadrupol-Energiependel." stellte Hannes fest. Judith untersuchte die anderen Spulen. "Die erste Spule schien die Energie auf die zweite abzustrahlen... Die beiden sind in Resonanz, die zweite Spule verstärkt die Schwingung und pumpt noch mehr Energie rein - das ganze muss ein riesiger Verstärker sein! Und ganz am Ende wird die Energie auf das Zentrum fokussiert und dort festgehalten. Aber wozu?" ergänzte sie. Währenddessen hatte sich Hannes etwas weiter umgesehen. "Eine Quadrupolschwingung... Das ist ein Gravitationswellenverstärker! Irgendwie müssen die ganzen Linsen und Spulen die schwachen Gravitationswellen auffangen, die von dem schwingenden Feld in der ersten Spule erzeugt werden, und sie immer weiter verstärken und bündeln. Aber wenn man das immer weiter so macht... dann muss sich im Zentrum ein schwarzes Loch bilden... Es sei denn, man lässt es rotieren - dann bekommt man ein Wurmloch, einen Tunnel durch Raum und Zeit, oder in ein anderes Universum!" Judith kletterte auf die Plattform, die das Zentrum bildete. "Und genau hier war Doktor Zacharias, als der Blitz einschlug..." schlussfolgerte sie. "Judith, geh da weg, bevor noch ein Blitz einschlägt!" rief Hannes ihr zu, doch Judith war so beschäftigt damit, die einzelnen Spulen anzupeilen, dass sie ihn gar nicht bemerkte. "Die Spule hinten rechts steht schief." stellte sie fest, sprang von der Plattform und lief hin. Hannes folgte ihr. Tatsächlich befand sich die Spule nicht mehr in ihrer Verankerng und bewegte sich bei jedem kleinen Schubs hin und her. "Kein Wunder, dass der Doktor immer woanders ist... Das Wurmloch öffnet sich immer an einer anderen Stelle, und dann schließt es sich wieder." stellte Judith fest. Zusammen brachten sie die Spule wieder in die richtige Position.

Die beiden konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen, bevor ein weiteres Mal der Blitz einschlug. Wieder wurde die Energie gesammelt und im Zentrum der Spulenanordnung gesammelt. Doch diesmal begann der Raum sich genau an dieser Stelle zu krümmen, als würde sich ein Tunnel aus dem Nichts öffnen. Ein helles Licht umgab die Plattform. Judith und Hannes bedeckten ihre Augen, um nicht geblendet zu werden. Erst als der Blitz verlosch, verschwand auch das helle Licht und sie konnten wieder hinsehen. Auf der Plattform stand Doktor Zacharias, der sich leicht verwirrt umsah. "Was machen Sie denn in meinem Labor?" fragte er die beiden. "Hier ist kein Zutritt für Unbefugte!" Er wollte sie schon hinauswerfen, doch Judith beschwichtigte ihn. "Wir haben Sie aus dem Wurmloch geholt." erklärte sie und erzählte davon, wie sie die Anordnung der Spulen korrigiert hatte. Der Doktor runzelte die Stirn. "Woher wissen Sie von den Wurmlöchern?" fragte er weiter. Judith erklärte ihm, dass sie sein Labor angesehen und so herausgefunden haben, wozu das ganze Experiment diente. Doktor Zacharias schüttelte den Kopf. "Aber... wann? Und wie sind Sie hier reingekommen? Ich war doch nur fünf Minuten weg!" Zum Beweis deutete er auf seine Armbanduhr. "Und überhaupt," fuhr er fort, "Wenn ich mich jetzt nicht beeile, verpasse ich das Endspiel, Deutschland gegen Ungarn, das wollte ich mir doch im Radio anhören!"

Es dauerte eine Weile, bis Judith und Hannes dem verwirrten Doktor erklärt hatten, dass jenes Fussballspiel nun schon über fünfzig Jahre zurücklag und dass für Ihn unterdessen so gut wie keine Zeit vergangen war, wenn man einmal von den kurzen Momenten seines Auftauchens absieht. Erst langsam wurde ihm bewusst, dass er sich in einer völlig anderen Zeit befand. "Dann hat sich also tatsächlich ein Wurmloch geöffnet..." murmelte er. "Ich stand auf der Plattform, um die Spulen zu justieren. Draußen war dieses heftige Gewitter. Auf einmal wurde es hell, ich war geblendet. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich in einem Lagerraum, am anderen Ende des Geländes. Ich dachte zuerst, das wäre nur eine Halluzination. Dann war ich auf einmal draußen, im Regen, und der war viel zu nass für eine Halluzination. Ich wollte zurück zum Labor, doch als ich fast da war, landete ich plötzlich in einem langen Gang. So ging es immer weiter, als wäre das Gelände ein riesiges Labyrinth, das ständig seine Form verändert. Nie kam ich dort heraus, wo ich eigentlich sein wollte."

In diesem Moment schlug ein weiterer Blitz in eine der Stromleitungen ein und tauchte das Labor in ein gleißend helles Licht. Die Energie des Blitzes sammelte sich in den Spulen und wurde ein weiteres Mal im Zentrum der Anordnung gebündelt, wo sich ein neues Wurmloch öffnete und beständig zu wachsen begann. Immer stärker krümmte sich der Raum im Inneren des Labors. Doktor Zacharias blickte auf die Experimente. "Verdammt, die Spulen sind überlastet. Verschwinden Sie von hier! Ich werde versuchen, das Wurmloch wieder zu schließen." Judith und Hannes wollten widersprechen, doch der Doktor ließ sich nicht davon abbringen. Schnell rannten die beiden aus dem Gebäude. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, denn kaum hatten sie das Gebäude verlassen, blitzte ein helles Licht im Labor auf und eine Druckwelle warf sie zu Boden. Als sie sich umsahen, erschraken sie. Das ganze Gebäude war verschwunden. Dort, wo eben noch ein großes Laboratorium stand, klaffte nur noch ein großes Loch im Boden. Fassungslos ging Judith darauf zu und blickte hinab. "Wo ist das Labor hin?" fragte sie und konnte es immer noch nicht glauben. "Wahrscheinlich in einem Wurmloch verschwunden." antwortete Hannes, der ebenfalls einen Blick in das riesige Loch warf. Judith schluckte. "Und der Doktor?" fragte sie unsicher. "Der ist hier." antwortete eine Stimme hinter ihr. Die beiden drehten sich um. "Doktor Zacharias!" rief Judith verblüfft. Er zog seinen Hut. "In Person." sagte er lächelnd. "Aber jetzt" fügte er mit einem Blick auf die Uhr hinzu, "ist wirklich Feierabend."