Ein blinkendes, rotes Herzchen erschien auf Jennys Computerbildschirm und sie wusste sofort, wer sich auf diese Weise bei ihr bemerkbar machte. Marc überraschte sie immer wieder aufs neue mit lieben Worten oder kleinen, virtuellen Geschenken. Es war nichts großes oder besonderes, aber Jenny freute sich sehr darüber, zeigte es doch, wie sehr er sie mochte. Sie erwiderte seine Zuneigung und machte kein Geheimnis daraus. Die beiden hatten sich ein paar Monate zuvor in einem Chat im Internet kennengelernt und verbrachten seitdem viel Zeit mit gemeinsamen Gesprächen, mal am Computer und mal am Telefon. Auch wenn sie nie direkt darüber sprachen, fühlten sie doch, dass es mehr als Freundschaft war, was sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Es war eine ganz besondere Nähe, die zwischen ihnen bestand, obwohl sie einander nie persönlich begegnet waren.
Doch an diesem Wochenende sollte sich alles ändern. Jenny und Marc hatten sich am Eingang eines Jahrmarktes in Jennys Heimatstadt verabredet. Sie wartete dort mit ihrer besten Freundin Leonie, denn sie war viel zu aufgeregt, um alleine auf Marc zu warten. Ihr Herz klopfte die ganze Zeit und Leonie hatte große Mühe damit, sie zu beruhigen. Die beiden waren über eine halbe Stunde zu früh und saßen auf einer Bank in der Nähe des Eingangs, von wo aus sie die vorbeifahrenden Autos sehen konnten und nach dem Wagen von Marc Ausschau hielten. Immer wieder sah Jenny ungeduldig auf die Uhr, stand auf, ging um die Bank herum und drehte sich nach dem Geräusch jedes fahrenden Autos um, in der Hoffnung, es wäre Marc. Leonie legte ihre Arme um sie und beruhigte sie, so gut sie nur konnte. Das Warten kam Jenny wie eine Ewigkeit vor, die Zeit wollte einfach nicht ergehen - und von Marc oder seinem Auto war nichts zu sehen.
Jenny erschrak, als ihr jemand von hinten die Augen zuhielt. Blitzschnell drehte sie sich herum und der Schrecken auf ihrem Gesicht wich einem Lächeln. "Marc!" rief sie, sprang regelrecht auf ihn zu und umarmte ihn. Er legte seine Arme um sie und drückte sie liebevoll an sich. "Hey Jenny, schön dich zu sehen. Du bist ja noch hübscher, als ich dachte." Jenny errötete und versuchte schnell abzulenken. "Das ist meine Freundin Leonie, ich hab dir ja von ihr erzählt." Die beiden begrüßten einander, doch schnell war Marcs Aufmerksamkeit wieder bei Jenny. "Kommt mit, da drin wird bestimmt lustig!" sagte Jenny und zog Marc und Leonie in Richtung Jahrmarkt. Marc legte einen Arm um Jenny und die drei machten sich zusammen auf den Weg, um den Rummel zu erkunden.
Das Wetter war gut und es gab viele Besucher. In der Nähe des Eingangs gab es ein paar Schießbuden und Marc versuchte sein Glück. Tatsächlich erzielte er ein paar Treffer und gewann ein Kuscheltier, das er Jenny schenkte. Sie freute sich, umarmte ihn und bedankte sich mit einem Kuss. Zusammen gingen sie ins Spiegelkabinett, in dem sie mal groß, mal klein, mal dick und mal dünn aussehen. Leonie fotografierte die beiden Verliebten, die Arm in Arm vor einem Zerrspiegel standen. Alle drei hatten viel Spaß dabei und machten Grimassen vor den Spiegeln. Danach schlenderten sie weiter über den Jahrmarkt mit seinen vielen Ständen, fuhren zusammen Autoscooter und aßen Zuckerwatte. "Schließ die Augen." sagte Marc nach einer Weile und Jenny zögerte nicht, seiner Bitte zu folgen. Während sie geduldig wartete, kaufte er ein Lebkuchenherz und hängte es ihr um. Dann küsste er sie sanft auf die Wange. "Jetzt kannst du wieder hinschauen." Jenny freute sich über das Geschenk um so mehr, weil es die Inschrift "Ich liebe dich" trug. Die beiden fielen sich in die Arme und küssten einander. "Danke..." sagte Jenny mit einer Freudenträne auf ihrer Wange. Marc strich sie ihr liebevoll fort. "Ich werde immer bei dir sein", sagte er, "Das verspreche ich dir."
Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, als die drei an einer Achterbahn ankamen. Leonie winkte gleich ab, denn sie mochte keine Achterbahnfahrten. "Ich bleib auch lieber hier" sagte Jenny und wollte sich Leonie anschließen. Marc versuchte, sie zu einer Fahrt zu überreden. "Bitte komm mit, nur für mich." Etwas ängstlich sah sie in seine Augen. Er nahm sanft ihre Hände und erwiderte liebevoll ihren Blick. "Ich bin doch bei dir, es kann nichts passieren." Jenny hatte immer noch ziemliche Angst. Auch wenn Marcs Berührung sie etwas beruhigte, spürte sie ihr Herz immer noch heftig Klopfen. Doch sie wollte ihn nicht enttäuschen und so versuchte sie, ihre Angst und ihr Herzklopfen zu ignorieren und folgte ihm zur Achterbahn. Für einen kurzen Moment bekam sie weiche Knie, doch Marc fing sie auf. "Geht's dir nicht gut? Wollen wir es doch lieber sein lassen?" fragte er etwas besorgt. Doch Jenny schüttelte den Kopf. "Nein, geht schon wieder - ich bin nur ein bisschen aufgeregt. Oder willst du etwa kneifen?" Sie zwinkerte ihm zu und zog ihn dann mit zum Ticketschalter.
Die beiden setzten sich nebeneinander in den ersten Wagen und legten die Sicherheitsgurte an. Zunächst ging es sehr langsam eine lange Steigung hinauf. Jennys Herz klopfte noch mehr als zuvor, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Marc hielt ihre Hand, doch sie nahm ihn kaum wahr. Viel zu groß war ihre Angst. Als sie die Spitze erreicht hatten, hielt der Wagen für einen Moment an. Marc blickte in Jennys Gesicht, das etwas blass geworden war. Sanft und beruhigend streichelte er ihre Hand. Dann stürzte der Wagen in die Tiefe. Jenny schrie vor Angst und ihr Gesicht wurde noch blasser. Sie spürte ihr Herz so sehr wie nie zu vor, es schmerzte sie in ihrer Brust. Marc machte sich große Sorgen um sie und Vorwürfe, weil er sie dazu überredet hatte. Jenny wurde immer panischer und wäre am liebsten ausgestiegen, doch es ging nicht."Hab keine Angst, es ist gleich vorbei." versuchte Marc sie zu beruhigen, doch die Höhenangst, die Jenny ihm verschwiegen hatte, war zu groß.
Als sie unten angekommen waren und sich der Wagen auf einer geraden Strecke auf den Ausgang zubewegte, schrie Jenny nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht blass und Marc merkte, dass sie nicht mehr atmete. Sofort machte er sich los und fühlte ihren Puls, doch es war keiner vorhanden. "Einen Arzt, schnell, einen Notarzt!" rief er und löste ihren Gurt. Als der Wagen zum Stillstand gekommen war, trug er sie heraus, legte sie auf den Rücken und beatmete sie, im Wechsel mit einer Herzmassage. Leonie hatte draußen auf die beiden gewartet, doch als sie sah, was passiert war, stürmte sie auf sie zu. "Jenny! Jenny!!!" Doch Jenny konnte sie nicht hören. Die Minuten kamen Marc vor wie Stunden, bis endlich der Krankenwagen kam und der Notarzt sich um sie kümmerte. Sie legten ihr eine Infusion, befreiten ihren Oberkörper von ihrem T-Shirt und legten ihr ein EKG an. Dann gaben sie ihr Elektroschocks und schließlich schafften sie es, sie ins Leben zurückzuholen. Als Jennys Herz wieder schlug, hoben sie sie auf die Trage und brachten sie in den Krankenwagen.
"Kann ich mitfahren?" fragten Marc und Leonie fast synchron. "Nur einer kann mit." sagte der Fahrer. "Fahr du mit" schlug Marc vor, "Ich komme mit dem Auto ins Krankenhaus." Leonie nickte und stieg in den Krankenwagen. Marc lief zu seinem Auto und machte sich auf den Weg. Als er in der Notaufnahme ankam, sah er Leonie auf dem Flur sitzen. "Sie operieren noch..." sagte sie nur und blickte zu Boden. Er setzte sich zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. Beide machten sich Vorwürfe - Marc, weil er Jenny überredet hatte, und Leonie, weil sie von ihrer Höhenangst wusste und nichts gesagt hatte. Die beiden schwiegen. Das einzige Geräusch, das sie hörten, war das Ticken der Uhr, die langsam immer weiter rückte.
Es verging eine Weile, bis sich die Tür öffnete und ein älterer Mann in einem grünen Kittel herauskam, bei dem es sich wohl um den Chefarzt handelte. Sofort sprangen die beiden auf. "Was ist mit Jenny?" fragte Marc sofort. Der Arzt sah die beidem mit einem fast steinernen Blick an. "Seid ihr mit ihr verwandt?" fragte er und wies sie auf seine Schweigepflicht hin. "Ich bin... ihr Freund." sagte Marc schließlich, "Und Leonie ist Jennys beste Freundin." Der Arzt schwieg für einen Moment und blickte in die ängstlichen Gesichter der beiden. "Jenny lebt." sagte er schließlich. "Aber wir mussten sie ins künstliche Koma versetzen. Sie hatte einen Herzklappenfehler und die Aufregung war zu viel für sie. Ihr Herz ist zu sehr geschwächt, um ihren Kreislauf alleine in Gang zu halten, deshalb unterstützen wir es im Moment dabei. Aber auf die Dauer kann ihr nur ein neues Herz helfen. Wir tun unser bestes, um so schnell es geht eines zu bekommen."
Der Piepser unterbrach ihn und er verabschiedete sich schnell, um dem nächsten Patienten zu helfen. Leonie weinte und Marc schloss sie in seine Arme, um sie zu trösten. Eine Schwester kam vorbei und fragte, ob sie den beiden helfen könne. "Können wir zu Jenny?" fragte Marc und die Schwester nickte. "Ihr müsst aber draußen bleiben, sie ist noch zu schwach." Dann führte sie die beiden zu einem Fenster, von wo aus sie in Jennys Krankenzimmer sehen konnten. Jenny lag in einem Krankenbett, umgeben von Apparaten, Infusionen und Beatmungsschläuchen. Marc musste Leonie stützen, damit sie nicht zusammenbrach. Die beiden standen eine Weile zusammen am Fenster, bevor sie sich gemeinsam auf eine Bank setzten. Sie weinten und Marc legte einen Arm um Leonie, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein war. Er dachte an das Versprechen, dass er Jenny gegeben hatte. Nichts und niemand hätte ihn dazu bringen können, sie im Stich zu lassen. Doch er konnte ihr nicht helfen. Er konnte nichts für sie tun, außer zu ihrem Bett zu sehen und ihre beste Freundin zu trösten.
"Ich... muss kurz weg..." sagte Marc, als einige Zeit vergangen war und Leonie aufgehört hatte zu weinen. Die beiden sahen sich kurz an, bevor er aufstand und auf die Toilette ging. Leonie ging wieder an das Fenster und sah zu Jenny. Sie fühlte sich hilflos, verzweifelt und machte sich schreckliche Vorwürfe. Wieder begann sie zu weinen und sah sich nach Marc um, doch er war noch nicht zurück. Sie sah auf die Uhr - schon eine Viertelstunde war vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie ging zur Toilettentür und öffnete sie einen Spalt. "Marc?" Doch es kam keine Antwort. Vorichtig öffnete sie die Tür ein Stück weiter und sah hinein, doch es war niemand zu sehen. Langsam ging sie hinein und warf einen Blick auf die Ecke. Ein lauter Schrei drang aus ihrer Kehle, als sie das Blut sah, das unter einer der Türen hervorlief. In Panik lief sie hinaus, direkt in die Arme einer Schwester. "Einen Arzt.." stammelte sie, noch immer vom Schreck gezeichnet, "Schnell, holen Sie einen Arzt!" Kreidebleich sackte sie zusammen.
Nur wenig später kam der Arzt, den die beiden bereits getroffen hatten. Marc lag regungslos in einer Blutlache. Er hatte sich die Pulsadern mit einem Taschenmesser geöffnet, die neben seiner rechten Hand lag. Auf dem Spülkasten lag seine Brieftasche, aus der er etwas herausgesucht hatte - einen Organspenderausweis. Daneben lag ein Zettel, zusammengefaltet, mit der Aufschrift "Für Jenny." Der Arzt fühlte seinen Puls, doch es war bereits zu spät. Er schloss Marcs Augen und schüttelte den Kopf. Dann fiel sein Blick auf den Organspenderausweis und ihm wurde klar, warum Marc das getan hatte. "Überprüfen Sie, ob die Blutgruppen übereinstimmen." ordnete er an. "Und dann ab in den OP - alle beide!"
Als Jenny die Augen öffnete, saß Leonie an ihrem Bett und hielt ihre Hand. "Leo..." sagte sie mit schwacher Stimme. "Was... ist passiert...?" Leonie fiel es schwer, Worte zu finden. "Dein Herz..." sagte sie leise. "Es war so schwach und hat versagt... Du..." Sie schluckte. "Du hast ein neues gebraucht..." Etwas unsicher blickte Jenny sie an und spürte, wie das Herz in ihrer Brust schlug. "Aber... jetzt ist alles in Ordnung, oder...?" fragte sie ängstlich. Leonie schloss die Augen und eine Träne lief ihre Wange hinab. Jenny sah sich um. "Wo... wo ist Marc...?" Leonie brachte es kaum übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. "Er... er hat dir das Leben gerettet..." war alles, das sie herausbrachte. Als Jenny begriff, wessen Herz in ihrer Brust schlug, war sie so vezweifelt, so traurig und so wütend zugleich, dass sie nicht einmal weinen konnte. Am liebsten hätte sie das Herz aus ihrem Körper herausgerissen und es Marc vor die Füße geworfen, doch sie wusste, dass alles nichts brachte. "Warum...?" fragte sie mit trauriger Stimme. "Wie konnte er das nur tun? Warum lässt er mich alleine...?" fragte sie mit trauriger Stimme. Leonie holte den Brief heraus, den Marc geschrieben hatte, und drückte ihn Jenny in die Hand. "Er wollte, dass du das liest..." Langsam faltete Jenny den Brief auseinander und begann zu lesen:
Liebe Jenny,
bestimmt fragst du dich jetzt, warum ich nicht bei dir bin und deine Hand halte oder dir die Tränen von der Wange streiche. Du bist sicher traurig und vielleicht auch wütend auf mich. Aber vergiss nicht, was ich dir versprochen habe - ich werde immer bei dir sein.
In ewiger Liebe, Marc.
Jenny weinte und ihre Tränen fielen auf das Papier. Sie drückte das Kuscheltier fest an sich, das Marc ihr geschenkt hatte und das Leonie in ihr Bett gelegt hatte. Sie spürte, wie das Herz in ihrer Brust schlug, und sie fühlte, dass es Marcs Herzschlag war, der sie nun am Leben hielt. "Danke..." sagte sie leise, in der Hoffnung, dass Marc ihre Worte hören würde. Fast flüsternd fügte sie hinzu: "Ich liebe dich..."