Die Höhle

Dr. Dyson Cromwell war einer der angesehensten Wissenschaftler seiner Zeit. Er hatte sich nicht zuletzt durch den Nobelpreis in Physik einen Namen gemacht und war ständig auf der ganzen Welt unterwegs zu Tagungen und Gastvorträgen. Zu seinem großen Hobby, der Archäologie, hatte er nur noch wenig Zeit. Trotzdem nutze er jede Gelegenheit, um Ausgrabungen zu besuchen oder eigene Expeditionen zu unternehmen. Auch in dieser Disziplin war er kein Unbekannter, sondern hatte bereits zahlreiche Artefakte und sogar einige Hinweise auf die untergegangene Stadt Atlantis gefunden. Doch seinem großer Traum, eines Tages zwischen den Ruinen der sagenumwobenen Stadt wandeln zu können, war er noch immer sehr fern.

Wieder einmal war Dr. Cromwell anlässlich einen Konferenz in Houston, Texas. Von früh bis spät gab es Vorträge und Diskussionsrunden. Schon der erste Tag brachte eine zehnstündige Marathonsitzung mit sich und er war sehr froh, als er am Abend wieder in seinen Hotelzimmer war. Er sah sich nur kurz die Nachrichten an, um auf dem laufenden zu bleiben, und legte sich dann schlafen. Doch auch im Schlaf fand er nur wenig Ruhe. Er träumte von einer Expedition in den Regenwald. In dem Traum fuhr er mit einem kleinen Boot einen Fluss hinauf, bis zu einem sehr hohen Wasserfall, der in der Sonne glitzerte. Vor allem auf halber Höhe glitzerte etwas ganz besonders, aber er konnte es nicht erkennen. Als er näher herankam, kamen Geister von Indianern auf ihn zugeflogen, mit Speeren und furchterregenden Gesichtern. Sie riefen ihm etwas zu, aber er konnte es nicht verstehen.

Schweißgebadet wachte Dr. Cromwell auf und fand sich in dem Hotelzimmer wieder. Er sah auf die Uhr - 1:27. Noch nie hatte er etwas so erschreckendes geträumt. Doch dann erinnerte er sich. Er hatte tatsächlich schon einmal den gleichen Traum gehabt, vor einigen Jahren. Es war kurz bevor seiner ersten Südamerika-Expedition, bei der er die Überreste eines alten Dorfes entdeckt hatte. Damals hatte er einige Tonkrüge und Schüsseln gefunden, die mit sehr großem Geschick gefertigt waren. Einige von ihnen besaßen sogar noch Reste ihrer Glasur, die stets das gleiche Bild zeigte - einen Wasserfall mit einem Stern in der Mitte. Sofort dachte er an den Traum und machte sich ein paar Notizen, bevor er sich wieder schlafen legte.

Der zweite Tag der Konferenz war genau so lang und anstrengend wie der erste. Doch die Gedanken von Dr. Cromwell waren nicht bei der Physik, sondern bei dem Traum und dem Wasserfall. Er hatte bei seiner Expedition keinen Wasserfall gesehen, aber irgendwie schien er sich dennoch daran zu erinnern. Am Abend legte er sich gleich schlafen und es dauerte nicht lange, bis er wieder im Land der Träume weilte. Wieder war er in dem Boot und fuhr hinauf zu dem Wasserfall, an den er sich nun ganz klar erinnerte. Er sah hinauf zu dem Glitzern und für einen Moment schien das Wasser still zu stehen, um ihm einen Blick zu gewähren. Hinter den hinabstürzenden Fluten, genau auf halber Höhe, sah er eine Höhle, aus der nun die gleichen Geister kamen wie in seinem ersten Traum. Sie riefen ihn, als wollten sie ihn warnen. Er hörte genau hin und konnte ihre Worte verstehen: "Bleib fort! Gefahr! Das Ende!" Er wollte sie rufen, doch bevor er dazu kam, wachte er auf.

Die Träume ließen ihm keine Ruhe und er fand nur wenig Schlaf. Er war sich ganz sicher, den Wasserfall schon einmal gesehen zu haben, aber er wusste nicht wo. Am nächsten Morgen machte er sich wieder auf den Weg zu der Konferenz, aber er dachte nur an den Wasserfall. Er war dabei so unachtsam, dass er mit einer jungen Frau zusammenstieß, die gerade aus einen Reisebüro ging. "Entschuldigen Sie bitte, ich war in meinen Gedanken woanders..." stammelte er und sammelte die Reiseprospekte auf, die sie bei dem Zusammenstoß verloren hatte. Als er einen zufälligen Blick darauf warf, traute er seinen Augen nicht. Das Deckblatt eines der Prospekte zeigte einen Wasserfall, aber nicht irgendeinen, sondern genau den, den er in seinem Traum gesehen hatte. "Wo ist das?" fragte er sie. Die junge Frau lächelte ihm an. "Das ist der Angel-Fall in Venezuela." - "Danke! Vielen Dank!" rief er, drückte ihr die Prospekte in die Hand und verschwand in dem Reisebüro, wo er sogleich einen Flug buchte. Schon am nächsten Tag sollte es losgehen. Danach machte er sich auf den Weg zu der Konferenz, sagte seine weitere Teilnahme ab und begab sich wieder in das Hotel, um seine Sachen zusammenzupacken.

In der Nacht fand Dr. Cromwell wieder keinen Schlaf. Seine Albträume wurden immer schlimmer und furchteregender. Auch in dieser Nacht sah er die Höhle hinter dem Wasserfall und die Geister, die ihn zu warnen versuchten. Sie machten ihm Angst, aber er ließ sich nicht von ihnen aufhalten. Plötzlich drang ein helles Licht aus der Höhle, dann ein noch hellerer Blitz. Um ihn herum fegte eine Feuerwalze über den Regenwald. Als sie vorübergezogen war, sah er sich um. Er fand sich in einer Wüste wieder, tot und lebensfeindlich. Auch der Wasserfall war versiegt. Auch als er aufgewacht war, sah er vor seinem geistigen Auge nichts als Sand, Steine und die Sonne, die heißer brannte, als er es jemals erlebt hatte.

Am Morgen konnte er sich nur mit viel Kaffee dazu bringen, pünktlich das Hotel zu verlassen, um seinen Flug nicht zu verpassen. Der Flug verlief ruhig und er nutzte die Zeit, um seinen fehlenden Schlaf nachzuholen. Zu seinem Erstaunen träumte er nichts - oder er konnte sich nicht daran erinnern. Kein Wasserfall, keine Geister, nichts. Alles schien verschwunden zu sein, aber in seiner Erinnerung war alles noch da. Es schien, als hätten sie ihm eine Botschaft geschickt und ihn dann verlassen. Auf dem Rest des Fluges ging er seine Aufzeichnungen durch und betrachtete Bilder des Angel-Falls. Über eine Höhle hinter dem Wasser konnte er jedoch nichts finden. Es wunderte ihn nicht, denn man konnte nicht hinter das Wasser sehen. Doch für einen geübten Bergsteiger wie Dr. Cromwell war es eher eine Herausforderung als ein unüberwindliches Hindernis, diese Höhle zu erreichen. Gleich nach der Landung suchte er sich ein Hotel und organisierte sich alles, was er an Ausrüstung benötigen würde. Er fand auch einen Führer, der ihn am kommenden Tag begleiten würde. Etwas erschöpft, aber dennoch zufireden legte er sich früh schlafen.

Auch in der Nacht blieb Dr. Cromwell von bösen Träumen verschont. Er sah es als ein gutes Zeichen - die Träume hatten ihm nach Venezuela geführt und waren abgeklungen, als er ihnen gefolgt war. Er hatte das gute Gefühl, das richtige getan zu haben. Am Morgen traf er sich mit seinem Führer und die beiden fuhren mit einem kleinen Boot den Fluß hinauf, bis hin zum Angel-Fall, der in der Sonne glitzerte, genau wie in dem Traum. Nicht weit davon legten sie an und bereiteten sich auf den Aufstieg vor - fast 500m senkrecht nach oben. Sie hatten sich eine Stelle nur wenige Meter neben dem Wasserfall ausgesucht, an der der Aufstieg für die beiden gut zu meistern war. Nach einer ganzen Weile erblickte Dr. Cromwell etwas - es gab tatsächlich eine Höhle, genau dort, wo er sie gesehen hatte. Als er sich ihr näherte und hineinstieg, folgte ihm sein indianischer Führer nur bis zum Eingang und rief ihm zu: "Bleib fort! Gefahr! Das Ende!" Dr. Cromwell erschrak bei diesen Worten, die ihm die Geister in seinem Traum zugerufen hatten. Sein Führer erzählte ihm von einer alten Legende, die sich um diese Höhle rankte und an die er bis zu diesem Moment selbst nicht geglaubt hatte. Wer diese Höhle betreten würde, würde damit die Welt vernichten.

Dr. Cromwell hörte sich die Legende aufmerksam an, doch er ließ sich nicht aufhalten, schon gar nicht so kurz vor seinem Ziel. Gegen den Rat seines Führers ging er tiefer in die Höhle. Nach ein paar Minuten tauchten im Schein seiner Lampe Inschriften auf, die er nicht entziffern konnte. Sie ähnelten keiner bekannten Schrift und dennoch waren sie ihm irgendwie vertraut. Er erschrak, als ihm ein paar Fledermäuse entgegenkamen, die er aufgeschreckt hatte. Immer tiefer ging er in die Höhle, bis er zu einer großen Kammer gelangte. Ihre perfekte, kubische Form ließ keinen Zweifel daran, dass sie künstlich angelegt worden war. Noch mehr erstaunte es ihn, was er in der Kammer fand. Sie war voll mit Rechenanlagen, riesige Computer standen in langen Reihen und verrichteten ihre Arbeit, angetrieben von einer Energiequelle, die er nicht sehen konnte. Zunächst hielt er es für eine geheime Regierungseinrichtung, doch etwas verwunderte ihn. Auf vielen der Computer fand er Fledermauskot - nichts verwunderliches in einer Höhle voller Fledermäuse. Doch dieser Kot stammte nicht aus moderner Zeit - er war versteinert.

Immer rätselhafter wurde die Höhle. Die Computer mussten viele Jahrtausende alt sein, doch wer hätte sie bauen können? Keine bekannte Zivilisation hatte das Wissen darüber. War es etwa das Volk von Atlantis? Er konnte es sich nicht erklären. Noch immer ging er durch die Höhle und erblickte schließlich etwas, das wie ein Kontrollraum aussah. Als er hineinging, schien irgendetwas zu reagieren und eine Reihe von Bildschirmen begann aufzuleuchten. Dr. Cromwell konnte es kaum glauben. Er sah Bilder aus aller Welt - Tokio, New York, Berlin. Die Bilder wechselten ständig und schienen die ganze Erde zu zeigen. Es war wie in einer großen Spionagezentrale, alles wurde überwacht. Doch von wem und zu welchem Zweck? Wurden die Daten aufgezeichnet oder an jemanden gesendet? Doch so lange er auch auf die Minitore sah, er fand keine Antwort. Er fand nur noch mehr fragen.

Immer klarer wurde es ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Diese Computer gehörten nicht an diesen Ort. Irgendjemand schien die Entwicklung der Menschheit zu überwachen, seit Tausenden von Jahren. Dr. Cromwell gefiel dieser Gedanke nicht und er beschloß, etwas dagegen zu tun. Er nahm seinen Hammer aus der Tasche und sah sich um. Alle Rechner sahen gleich aus. Er ging zu einem von ihnen hin und sah ihn sich näher an. Das Gehäuse war aus Metall und einer Art Kunststoff, die ein paar Bedienelemente und Anzeigen auf der Vorderseite abdeckte. Er schlug darauf ein, bis die blinkenden Anzeigen erloschen. Dann blickte er wieder auf die Monitore. Zuerst sah er keinen Unterschied, doch dann bemerkte er, dass Tokio nicht mehr zu sehen war. Er hatte offenbar die Überwachung für diese Stadt zerstört. Davon ermutigt machte er weiter und zerstörte einen Rechner nach dem anderen, bis keiner mehr übrig war. Als er wieder in den Kontrollraum ging, zeigten die Monitore noch immer etwas an. Doch nun sah er keine Städte mehr, nur noch Wüsten. Nur noch der Computer im Kontrollraum lief - und er überwachte ausgerechnet eine Wüste? Dr. Cromwell öffnete eine Abdeckung auf den Vorderseite und schlug mit dem Hammer hinein. Die Monitore erloschen und es blieb nichts als Stille. Für einen Moment setzte er sich und ruhte sich aus.

Nach einer Weile machte er sich wieder auf den Weg aus der Höhle, um seinem Führer von seiner Entdeckung zu erzählen und den Heimweg anzutreten. Wieder ging er an den Inschriften an der Wand vorbei, doch zu seiner Überraschung konnte er sie nun lesen. Die Symbole waren ihm nicht nur vertraut, er verstand jedes einzelne Wort. Er folgte ihnen und las: "Willkommen, Sohn von Atlantis. Dies ist der Ort, an dem wir für dich, den letzten unseres Volkes, all unser Wissen und unsere Geheimnisse aufbewahrt haben. Wir haben es hier aufbewahrt, um es auch nach dem Untergang unseres Reichs des Wassers zu schützen und zu erhalten. Auch wenn die immer heißer werdende Sonne alles Wasser verdampft und alles Leben vernichtet, bleibt unser Wissen erhalten, damit du es zu neuem Leben erwecken kannst. Für dich haben wir ein Abbild unserer Welt erschaffen, in dem du aufwachsen und leben kannst, auch wenn unsere reale Welt längst verbrannt ist. Möge unsere Zivilisation auf diese Weise noch lange weiter existieren." Damit endete die Inschrift.

Dr. Cromwell war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Endlich hatte er einen Beweis für die Existenz von Atlantis. Doch was war mit der Höhle, mit den Computern? Als er sich dem Eingang der Höhle näherte, fiel ihm etwas auf. Er hörte kein Wasser rauschen, die Luft war trocken. Er hörte nichts als den Wind. Schritt für Schritt ging er zum Eingang und sein Eindruck bestätigte sich. Der Wasserfall war verschwunden. Auch sein Führer war nirgends zu sehen. Als er auf das Tal vor ihm blickte, traute er seinen Augen nicht. Vor ihm erstreckte sich kein Regenwald, sondern nichts als eine endlose Wüste unter einer erbarmungslos heißen Sonne, genau wie in seinem Traum. Fassungslos setzte er sich hin. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr verstand er die Inschrift. Seine Welt war längst untergegangen. Die Welt, in der er lebte, war nichts als eine Illusion - und er hatte sie gerade zerstört.