Tödliche Bekanntschaft

Ich stützte meine Hände auf das Geländer und blickte aufs Meer hinaus. Ein leichter Wind kräuselte seine Oberfläche und brachte ein wenig Abkühlung in diesen sonnigen Spätsommernachmittag. Ich ließ meinen Blick und die Gedanken schweifen. Über ein Jahr hatte ich nun schon hier verbracht - länger als an jedem anderen Ort in den vergangenen zehn Jahren. Ständig musste ich umziehen, meinen Aufträgen folgen und danach genau so schnell wieder verschwinden, wie ich gekommen war. Doch hier kannte mich niemand. Mich und meine Vergangenheit. Hier konnte ich ein ganz normales Leben führen, so wie jeder andere Mensch. Eine kleine Wohnung, ein Job, etwas Freizeit und...

"Huhu!" rief plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah, wie July auf mich zulief und winkte. Ich winkte zurück und lief ihr entgegen. Kurz, bevor wir zusammenstießen, bremsten wir ab und umarmten einander. "Na." sagte July und lächelte mich an, als wir uns wieder voneinander gelöst hatten. Ich lächelte zurück. "Na, wie geht's dir?" fragte ich sie und blickte in ihre hübschen, blauen Augen. "Jetzt gut!" erwiderte sie freudestrahlend. "Und dir?" - "Auch gut, jetzt, wo du hier bist." antwortete ich und zwinkerte ihr zu. July sah sich um. "Hast du schon lange gewartet?" fragte sie vorsichtig. Ich schüttelte mit dem Kopf. "Höchstens ein paar Minuten - und jede einzelne davon hat sich gelohnt." July errötete leicht und sah damit gleich noch ein wenig süßer aus, als sie ohnehin schon war. Ich streichelte über ihre Wange und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze. July kicherte verlegen. "Was machen wir jetzt?" fragte sie und lenkte damit geschickt von ihrer Verlegenheit ab. Ich überlegte eine Weile. "Ich weiß nicht, wonach wäre dir denn? Ein Strandspaziergang? Oder wollen wir irgendwo hinfahren?" July sah auf die Uhr. "So lange kann ich leider nicht und zum spazieren gehen ist es zu warm... Ich brauch was kühles..." Ich lächelte. "Dann hab ich zwei Ideen: Entweder wir gehen schwimmen - oder ich hole uns ein Eis." Sie blickte zum Meer. "Schwimmen wär gut, aber ich hab keine Badesachen mit..." - "Ich sag's keinem..." flüsterte ich July ins Ohr und grinste. "Ey!" rief sie und drehte sich um. Ich lachte. "Na gut, dann gehen wir ein Eis essen. Kommst du mit? Hier in der Nähe ist ein kleines Eiscafe." Ich musste July nicht lange bitten. Kaum hatte ich den Vorschlag gemacht, war sie auch schon an meiner Seite und nahm meine Hand. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg.

Das Cafe war gut besucht. Jeder, der an diesem Nachmittag frei hatte, genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen. Ich besorgte und beiden einen großen Eisbecher mit zwei Waffeln und zwei Löffeln, während July uns draußen einen Tisch freihielt. Sie machte große Augen, als ich mit dem dreifarbigen Eisbecher wiederkam. "Ui... Was ist das?" fragte sie neugierig und konnte ihre Augen kaum davon lösen. "Rate doch mal." antwortete ich und grinste. July sah genau hin. "Vanille, Schoko und Erdbeer? Und Sahne oben drauf?" Ich lachte. "Fast - Erdbeer stimmt nicht. Was magst du am liebsten?" - "Himbeer!" rief July sofort und lachte. Sie nahm eine Waffel, tauchte sie in das rote Eis und probierte. Natürlich hatte sie diesmal Recht und strahlte bis über beide Ohren. Ich setzte mich ihr gegenüber hin und nahm mir die andere Waffel. "Wir sollten öfter zusammen Eis essen." schlug ich vor und lächelte July an. Sie nickte. "Komm mich doch mal besuchen, wir haben ganz tolles Eis da." Ich seufzte leise. Obwohl wir uns schon eine ganze Weile kannten, hatte ich sie noch nie besucht - und das nicht ganz ohne Grund. Julys Vater arbeitete bei der Polizei und ich hatte kein sehr großes Bedürfnis, ihm zu begegnen. Doch davon wusste July genau so wenig wie von meiner Vergangenheit. Und so sollte es auch bleiben. "Gerne, wenn es sich mal ergibt." antwotete ich mit einem Lächeln.

Als wir aufgegessen hatten, begleitete ich July noch ein Stück auf ihrem Heimweg. "Hey, komm, ich zeig dir mal was!" sagte sie, als wir am Strand vorbeikamen. Dort war ein hölzerner Steg mit einem recht schmalen Geländer. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, war July schon hinaufgeklettert und balancierte darauf entlang. Mit ihren Ballerinas schien es ihr nicht schwer zu fallen, darauf Halt zu finden. "Fall nicht runter!" rief ich ihr teils besorgt, teils beeindruckt zu und ging neben ihr her. "Nein, ich kann das..." erwiderte July - gerade in dem Moment, als eine Windböe sie aus dem Gleichgewicht brachte. Ich versuchte noch, sie zu halten, doch bevor ich ihre Hand erreichen konnte, landete sie rücklings im Sand. "July! Hast du dir wehgetan?" rief ich und lief zu ihr. Sie schüttelte mit dem Kopf. "Nein, alles okay... Blöder Wind..." Ich lachte und reichte ihr meine Hand, um ihr aufzuhelfen. July nahm sie und ich half ihr hoch. "Wow, was ist das denn?" fragte sie auf einmal und blickte auf meinen Handrücken. Instinktiv zog ich meine Hand zurück. "Nichts... Nur eine alte Narbe." antwortete ich schnell und wollte schon weitergehen, doch July hielt mich auf. "Zeig doch mal... Oder darf ich die nicht sehen?" fragte sie mit fast enttäuschter Stimme. "Natürlich darfst du sie sehen..." erwiderte ich und zeigte ihr meinen Handrücken. July sah die Narbe ganz genau an und verfolgte ihre Konturen mit dem Zeigefinger. "Woher hast du die?" fragte sie und sah mich neugierig an. "Das ist eine lange, alte Geschichte... Kurz gesagt, ich bin als Kind gestürzt und habe mir die Hand an einer Steinkante aufgeschlagen." July schluckte. "Aua... Sieht aber cool aus... Fast wie ein Buchstabe, wie ein..." - "Ein X.", unterbrach ich sie. July schüttelte den Kopf. "Nein, für einen X hat sie einen Strich zu wenig." Ich lächelte sie an und legte meine Hand auf ihre. "Dann ist es auch kein ganzer Buchstabe. Wie spät ist es eigentlich? Wolltest du nicht schon längst zu Hause sein?" Sie sah auf die Uhr und seufzte. "Ja, du hast Recht. Ich muss los..." Wir verabschiedeten uns mit einer langen Umarmung, bevor July sich auf den Weg machte.

Es war früher Abend, als mein Telefon klingelte. Ich sah auf die Nummer auf dem Display - es war July. Zwar hatte ich mit ihrem Anruf gerechnet, aber noch nicht so früh. Ich nahm den Hörer ab und meldete mich. Sie weinte und ich musste sie beruhigen, bevor sie etwas sagen konnte. "Mein Vater... Er ist völlig durchgedreht..." sagte sie, immer noch weinend. Ich beruhigte sie. "Was ist denn passiert?" fragte ich vorsichtig. Sie schluchzte. "Ich... Ich hab ihm von deiner Narbe erzählt und da ist er auf einmal völlig wild geworden... Jetzt glaubt er, du wärst irgendein Killer oder sowas... Er hat mich in meinem Zimmer eingesperrt und sucht nach dir... Du musst abhauen, er hat seine Waffe mit!" July hörte nicht auf zu weinen, so sehr ich sie auch zu beruhigen versuchte. "July... Weine nicht... Alles wird gut..." sagte ich wieder und wieder. Langsam beruhigte sie sich. "Verdammt... Du bist doch kein Killer..." schluchzte sie. "Versteck dich irgendwo... Und... Nimm mich mit, okay...?" sagte sie mit trauriger Stimme. Ich schluckte. Für mich war es nichts neues, die Stadt und die Identität zu wechseln und irgendwo anders ein neues Leben anzufangen - aber für July? "Bist du nicht eingeschlossen..:?" fragte ich vorsichtig. Sie machte eine kurze Pause. "Ich kann aus dem Fenster klettern, mein Zimmer ist doch im Keller... Holst du mich ab?" Ich überlegte, was ich machen sollte. July einfach alleine lassen? Nein, das konnte ich nicht. "July... Hör genau zu... Komm dahin, wo wir uns das erste Mal getroffen haben... Da werde ich auf dich warten, in Ordnung?" Für einen Moment lang war es still. "Ja... Bis gleich..." Dann legte sie auf.

Die Sonne ging gerade unter, als July unsere geheime Stelle am Strand erreichte. Ich hatte mich im Gebüsch versteckt, für den Fall, dass ihr jemand folgen sollte. Doch sie schien allein zu sein. Vorsichtig schlich ich aus dem Gebüsch. "July...?" Sie erschrak ein wenig und drehte sich zu mir herum. "Da bist du ja..." weinte sie, lief auf mich zu und klammerte sich fest an mich. Ich legte meine Arme um sie und hielt sie beruhigend fest. "Du musst keine Angst haben, ich bin ja bei dir..." - "Lass mich nicht los..." sagte sie mit trauriger Stimme. Ganz vorsichtig streichelte ich sie. Allmählich beruhigte sie sich. "Ich hab die Narbe gesehen..." sagte sie leise. "In Papas Akte, auf einem Foto... Sie sieht aus wie ein Y... Das ist deine, oder...?" Ich nickte. "Dann weißt du es also...?" fragte ich sie. July nickte ebenfalls. "Aber es ist mir egal, was du bist... Ich will bei dir sein... Wie bei Bonnie und Clyde..." Ich lächelte und drückte sie leicht an mich. "Ja, ganz genau so..." Dabei dachte ich an die Geschichte von Bonnie und Clyde, die mir immer gut gefallen hatte - obwohl sie kein glückliches Ende hat...

"Lass sie auf der Stelle los!" rief eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Auch ohne dass er sich vorgestellt hatte, wusste ich, dass es Julys Vater war, der seine Waffe auf mich gerichtet hatte. Sofort stellte sich July vor mich. "Nicht schießen, er tut doch nichts!" rief sie. "Geh zur Seite, Julia! Er ist ein Killer, er benutzt dich nur!" Doch July wich keinen Schritt zur Seite. "Nein, das tut er nicht!" Ich sah mich um. Noch war keine Verstärkung in Sicht. Also brauchte ich nur ein Druckmittel, um Julys Vater außer Gefecht zu setzen - und das, was ihm am wichtigsten war, stand direkt vor mir. Ich nutzte die Deckung, die July mir bot, zog ein Messer und hielt es ihr an die Kehle. "Waffe fallen lassen!" rief ich ihrem Vater zu. July schluckte. "Keine Angst, ich tu dir nichts." flüsterte ich ihr zu, um sie zu beruhigen. Ihr Vater dachte gar nicht daran. "Weg mit dem Messer!" rief er zurück und zielte auf meine Stirn. Doch ich wusste genau wie er, dass er nicht schießen konnte, nicht jetzt. "Ein Schuss und sie ist tot, also weg mit der Waffe!" rief ich ihm zu und hielt July fest - vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Langsam sicherte ihr Vater seine Waffe und nahm sie herunter. "In den Gulli damit!" rief ich weiter und deutete auf einen Gullideckel auf der anderen Straßenseite. Ohne uns aus den Augen zu lassen ging ihr Vater darauf zu - ganz langsam, um möglichst viel Zeit zu gewinnen. Doch die konnte ich ihm nicht gewähren. Schließlich warf er die Waffe hinein. Schnell steckte ich das Messer weg und ließ July los. "Schnell, in den Wagen!" rief ich ihr zu, nahm ihre Hand und lief los. Eilig folgte sie mir, während ihr Vater versuchte, den Gullideckel zu öffnen - doch das war ohne Werkzeug ziemlich schwierig. "Julia, nicht!" rief er noch, doch July lief weiter und stieg in meinen Wagen. Ich drehte den Zündschlüssel um und gab Gas. Im Rückspiegel sah ich noch, wie ihr Vater den Gullideckel öffnete, doch er kam zu spät - wir waren schon außer Reichweite.

July war ganz außer Atem. "Was machen wir jetzt? Wohin fahren wir?" fragte sie, als sie wieder zu Puste gekommen war. Ich sah in den Rückspiegel. "Mit diesem Wagen nirgendwo hin - dein Vater hat bestimmt schon eine Fahndung rausgegeben, damit kommmen wir nicht weit. Also müssen wir uns als erstes was anderes suchen, und weg von hier, möglichst weit weg. Und wir brauchen neue Papiere, aber dafür kenne ich wen. Das schaffen wir schon, hab keine Angst." July nickte. "Hab ich nicht... Du bist ja da." Ich lächelte. Doch als ein Blaulicht in meinem Rückspiegel auftauchte, wurde mein Blick wieder ernster. "Verdammt, wir haben Besuch." July sah sich um. "Und jetzt?" fragte sie und sah mich ratlos an. Ich drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. "Jetzt sehen wir mal, wer besser fahren kann." Die Straße war ziemlich kurvig und ich musste vor jeder Kurve abbremsen, um nicht im Graben zu landen. Ich sah in den Spiegel. Noch immer verfolgten und zwei Streifenwagen. Wir passierten eine weitere Kurve, auf die ein längerer, gerader Abschnitt folgte. Ich sah ein rotes Blinklicht - ein Bahnübergang. Der Zug war bereits in Sicht. "Halt dich fest." sagte ich zu July und schaltete die Automatik von D auf S - "sportlicher" Fahrmodus. Dann drückte ich das Pedal durch. July sah zum Bahnübergang, zum Zug und dann zu mir. "Das schaffen wir nicht." sagte sie ausdruckslos. "Das schaffen wir." erwiderte ich. Sie wurde blass. "Das schaffen wir nicht." wiederholte sie. Mein Fuß blieb am Anschlag. "Das schaffen wir." Sie wurde panisch. "Das schaffen wir nicht!" rief sie und sah starr nach vorne. Ich sah in die gleiche Richtung. "Das schaffen wir!"

Es krachte, als wir durch die Schranke brachen. Wenige Meter hinter uns hörte ich den Zug vorbeidonnern. July war kreidebleich. "Das... das..." stotterte sie. "...haben wir geschafft." setzte ich fort und spürte mein Herz kräftig schlagen. Ich wusste, dass es July nicht anders ging. Langsam beruhigte sie sich wieder. Ein ganzes Stück vor der nächsten Kurve bremste ich ab und hielt an. "Was hast du vor?" fragte July und sah mich ratlos an. "Jetzt ist es Zeit für das Ende von Bonnie und Clyde... Komm, steig aus, dann kannst du mir helfen." Noch immer etwas ratlos sah July zu, wie ich ein paar Stücke Holz aus dem Wald zusammensuchte. "Hast du irgendwas zum binden dabei, eine Schnur oder so?" fragte ich sie und probierte, ob man das Gaspedal mit einem der Holzstücke verkeilen konnte. Eines passte schließlich. July schüttelte den Kopf. "Nein, ich hab nichts dabei..." Ich durchsuchte meine Taschen. "Mist... Irgendwas anderes, ein Tuch, ein Band, irgendwas, das man ans Lenkrad binden kann." Wir grübelten. "Öhm... Geht mein BH?" fragte July schließlich. Ich zuckte mit den Schultern. "Ja, müsste gehen." - "Okay..." Schnell blickte ich weg. "Hier." sagte July, die plötzlich direkt hinter mir stand und grinste. "Danke..." erwiderte ich verlegen, nahm ihn ihr aus der Hand und fixierte damit das Lenkrad. "Siehst du den Holzstapel da in der Kurve?" fragte ich und deutete die Straße entlang. "Den müssen wir treffen. Und das schnell, der Zug ist gleich durch." Im Leerlauf brachten wir den Wagen in Position. "Warte hier, in Ordnung?" July nickte. "Pass auf dich auch..." sagte sie leise. Ich ließ den Wagen an und legte einen Gang ein. Dann drückte ich das Gaspedal herunter und verkeilte es. Der Wagen beschleunigte. Schnell sprang ich heraus in die Böschung und sah ihm nach. Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis er gegen den Holzstapel raste, sich überschlug und von einem Baum gestoppt wurde. "Volltreffer!" rief ich. "July, komm, wir sind noch nicht fertig!" July zögerte nicht, mir zur Unfallstelle zu folgen. Der Wagen lag auf dem Rücken. "Den BH und das Holz kannst du wieder rausholen." July nickte, kramte das Holzstück aus dem Wagen, löste den BH vom Lenkrad und zog ihn hinter einem Busch wieder an. Ich nahm währenddessen ein Stück Holz und schlug damit auf die Benzinleitung ein, bis sie brach und das Benzin herauslief. Es dauerte einen Moment, bis sich genug Benzindampf gebildet hatte. Dann nahm ich ein Feuerzeug und zündete ihn an. "Farewall, Bonnie und Clyde..." sagte ich mit einem letzten Blick auf den brennenden Wagen, nahm July an der Hand und verschwand mit ihr in der Dunkelheit.