Interview mit einem Killer

Es war ein stürmischer Herbsttag, als ich durch die Straßen der kleinen Siedlung am Stadtrand ging. Eigentlich war es eine schöne Gegend - kleine Häuser, wenig Verkehr. Es dauerte nicht lange, bis ich die Adresse gefunden hatte, ein etwas abseits stehendes Haus in einer Sackgasse. Langsam ging ich darauf zu. Vor dem Haus war ein kleiner, umzäunter Garten. Die Pforte stand offen und ich ging hinein. Nach einem kurzen Blick auf das Türschild folgte ich einem Weg um das Haus herum, der direkt zu einer kleinen Terrasse führte. Die Terrassentür war mit einem gewöhnlichen Sicherheitsschloß verriegelt. Ich griff in meine Tasche und nahm etwas Werkzeug heraus. Es dauerte nur eine knappe Minute, bis ich das Schloß geöffnet hatte. Leise öffnete ich die Tür, ging hinein und verschloß sie sofort wieder. Aus einem anderen Teil des Gebäudes waren Geräusche zu hören. Jemand schien an einem Computer zu arbeiten, es klang wie eine Tastatur. Vorsichtig näherte ich mich der Quelle dieser Geräusche. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen und ich sah einen dunkelhaarigen Mann an seinem Schreibtisch sitzen und an etwas arbeiten.

"Störe ich?" fragte ich mit lauter Stimme. Er erschrak und drehte sich um. "Wer sind Sie? Wie sind Sie reingekommen?" - "Durch die Tür." antwortete ich trocken. "Und wer ich bin, sollten Sie wissen. Wir sind verabredet." Er war noch immer ziemlich erschrocken, aber langsam beruhigte er sich. "Ja, natürlich. Aber ich hatte erwartet, dass Sie klingeln und nicht einfach so reinkommen." - "Ich benutze selten den Vordereingang, das ist bei meinem Beruf nicht üblich." Bei diesen Worten schien ihm erst wirklich bewusst zu werden, wer vor ihm stand: ein Auftragsmörder. "Wollen wir nun mit dem Interview anfangen?" fragte ich etwas ungeduldig. "Sofort!" Er kramte in seinen Unterlagen und nahm einen Block und einen Stift heraus. "Am besten gehen wir ins Esszimmer. Möchten Sie etwas trinken? Tee, Wasser?" - "Eine Tasse Tee wäre gut." Ich folgte ihm und nahm am Tisch Platz, während er einen Tee aufgoss. "Zucker?" fragte er. "Nein, danke." Er gab 2 Stück Zucker in seine Tasse, setzte sich ebenfalls hin und begann mit dem Interview.

"Wie soll ich Sie nennen?" fragte er noch etwas unsicher. "In meiner Branche gibt es nur Decknamen. Mich nennt man Ypsilon." - "Ypsilon? Hat das eine Bedeutung?" Ich zog den schwarzen Lederhandschuh von meiner rechten Hand und zeigte ihm meinen Handrücken, den eine Y-förmige Narbe zierte. "Die habe ich schon sehr lange." Er notierte etwas, während ich den Handschuh wieder anzog und einen Schluck Tee trank. Er sah von seinen Notizen hoch. "Sie sprachen von einer Branche. Wie sehen denn die Kunden Ihrer Branche aus - und die Opfer?" - "Um sich einen Killer leisten zu können, braucht man Geld. Meistens geht es auch darum, um Geld oder Macht. Sei es der leitende Angestellte, der seinen Chef umbringen lässt, um an die Spitze zu kommen, oder der Politiker, der seine Gegner loswerden will. Oft möchten meine Kunden auch Leute aus dem Weg räumen, die zu viel wissen. Seltener ist der Mord am Ehepartner, um die Lebensversicherung zu kassieren." - "Und wie treten Ihre Kunden an Sie heran?" - "Die Kontaktaufnahme ist einfach und erfolgt anonym über verschlüsselte Mail-Postfächer. Die gesamte Kommunikation verläuft über mehrere Zwischenstationen zur Anonymisierung und natürlich verschlüsselt. Für die Bezahlung nenne ich meinem Kunden einen toten Briefkasten - irgendetwas, wo er das Geld hinterlegen kann, meistens ein Papierkorb im Park."

"Kommen wir nun zur Methode. Wie bringen Sie ihre Opfer um?" Ich überlegte kurz. "Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe keine Standardmethode, sondern wähle jedes Mal etwas neues. Mal ist es Gift, mal eine manipulierte Bremsleitung... Meine Spezialität sind vorgetäuschte Selbstmorde oder Unfälle." Er sah mich an. "Heißt das, Sie tarnen alle Ihre Morde?" - "Natürlich. Ein Mord, der wie ein Mord aussieht, wird untersucht. Deshalb sorge ich dafür, dass es nicht so weit kommt." Gespannt hörte er mir zu und trank dabei seinen Tee aus. "Dafür brauche ich natürlich gute Kenntnisse über das Opfer." führte ich meine Erklärung fort. "Jemand, der glücklich ist, bringt sich nicht um. Jemand, der kein Auto hat, fährt nicht gegen einen Baum. Zu einem Mord gehört daher stets eine lange Recherche und viel Vorbereitung. Es ist natürlich auch Erfahrung notwendig." - "Das bringt mich auf eine andere Frage: Sie sind nicht maskiert - warum? Haben Sie nicht zu befürchten, dass ich Ihr Gesicht kenne und Sie verrate?" - "Nein, nicht im geringsten."

Meinem Gesprächspartner stand der Schweiß auf der Stirn und er holte sich ein Tuch. "Bedeutet das, dieses Interview stellt keine Gefahr für sie da?" - "Richtig." antwortete ich kühl. "Niemand wird es jemals lesen." Sein Gesicht war etwas blass geworden und er schwitzte noch immer. "Was soll das heißen?" - "Ganz einfach: Sie werden keine Gelegenheit haben, es zu veröffentlichen, weil Sie nicht mehr lange genug leben." Er schluckte. "Ich bin nicht wegen des Interviews hier sondern wegen einer anderen Story von Ihnen - über den Bauskandal. Um es kurz zu machen: Sie wissen zu viel und und ich bin hier, um Sie aus dem Weg zu räumen." - "Was? Aber... Wie...?" Er war kreidebleich und lockerte seinen Kragen. "Mit Ihrem Herzmittel. Sie haben soeben eine Überdosis davon zu sich genommen." Ich blickte auf die Teetasse. "Aber Sie haben doch auch davon getrunken!" Ich stand auf, nahm die Zuckerdose aus dem Regal und stellte sie vor ihm ab. Dann nahm ich den restlichen Zucker heraus und tauschte ihn gegen den Inhalt eines Marmeladenglases aus, das ich in meiner Tasche hatte. "Diesen Tausch habe ich heute früh schon einmal gemacht. Sie trinken den Tee immer mit Zucker." Er sah mich fragend an. "Aber... Warum...?" Er bekam kaum noch Luft. "Weil Ihre Freundin Sie betrogen hat." Ich nahm ein paar Fotos von seiner Freundin heraus, auf der sie jemand anderen küsst. "Die sind zwar schon älter, aber das wissen Sie ja nicht. Und den Abschiedsbrief habe ich auf Diskette dabei." Kraftlos sank er über dem Tisch zusammen.

Eilig stellte ich die Zuckerdose zurück, wusch meine Tasse ab und stellte sie zu den anderen. Nichts sollte an meinen Besuch erinnern. Dann ging ich zu seinem Rechner und kopierte den Abschiedsbrief von der Diskette. Ich änderte das Dateidatum, damit es so aussah, als hätte er ihn kurz vor seinem Selbstmord geschrieben. Danach suchte ich nach den Dateien über den Bauskandal und löschte sie mit einem Datenvernichtungsprogramm, das ich auch auf der Diskette hatte. Aus seinem Büro nahm ich sämtliche Unterlagen darüber mit. Schließlich überprüfte ich noch die Speicherkarten seiner Digitalkamera und löschte alle Bilder, die mit dem Bauskandal zu tun hatten. Dann ging ich zurück zum Tisch und steckte seine Notizen zu unserem Interview ein. Ich fühlte seinen Hals - kein Puls. Nachdem ich mich noch kurz umgesehen hatte, verließ ich das Haus wieder über die Terrasse und verriegelte das Schloß.