Verurteilt

Im Gerichtssaal herrschte Schweigen, als der Richter begann, das Urteil zu verkünden. "Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Julian Braun wird des 47-fachen Mordes für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Auf Grund der besonderen Schwere der Tat wird eine Begnadigung nach 15 Jahren ausgeschlossen. Eine Strafmilderung kommt, trotz des umfassendes Geständnisses des Angeklagten und der Selbstanzeige, nicht in Betracht. Das Gericht ist weiterhin der Ansicht, dass nach wie vor eine hohe Gefahr von dem Angeklagten ausgeht, und rät daher zu entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen." Regungslos und mit dem ausdruckslosen Gesicht eines Pokerspielers saß ich auf der Anklagebank, vernahm schweigend das Urteil und strich mit der linken Hand über meinen rechten Handrücken, der von einer Narbe geziert war - in Form des Buchstaben Y.

Die Zelle, in die ich gebracht wurde, befand sich am Ende eines Hochsicherheitstraktes, der zur JVA Hamburg-Fuhlsbüttel gehörte, im Volksmund auch "Santa Fu" genannt. In diesem Bereich wurden nur echte Schwerverbrecher untergebracht, von Waffenschiebern über Menschenhändlern hin zu Serienkillern. Eine Liege, ein Waschbecken und eine Toilette - mehr gab es nicht in der kleinen Zelle, deren Fenster vergittert waren. Außer der Gefängniskleidung waren keine weiteren Gegenstände in der Zelle erlaubt, mit Ausnahme des Mittagessens, das auf einem Kunststofftablett und mit Plastikbesteck in die Zelle gebracht wurde, aus Sicherheitsgründen. Jeden Tag um die gleiche Zeit reichte einer der Wärter es mir durch die Luke in der Tür. Das Essen schmeckte eher schlecht als recht, doch nach ein paar Tagen hatte ich mich daran gewöhnt - denn ich wusste, dass ich es nicht lange würde aushalten müssen. Mit dem Mittagessen bekam ich noch etwas in die Zelle: Nikotinkaugummi. Meine Ärztin, oder besser gesagt, meine Gefängnistherapeutin, hatte dafür gesorgt, dass ich jeden Tag ein kleines Päckchen davon bekomme. Als Begründung hatte sie eine starke Nikotinabhängigkeit angegeben und die Gefahr schwerer Entzungserscheinungen - im Hochsicherheitstrakt war Rauchen strengstens verboten, sogar die Mitnahmes eines Feuerzeuges war nicht gestattet. Die Nikotinkaugummis sollten den Entzug erleichtern. Zum Glück wusste niemand außer ihr und mir, dass ich Nichtraucher bin...

Es vergingen fast zwei Wochen. Jeden Tag nahm ich den Kaugummi aus dem Päckchen, kaute ihn ein wenig weich und klebte ihn dann unter meine Liege. Jeden Tag wurde es etwas mehr. Einen kleinen Teil benutze ich, um die silbrig glänzende Aluminiumverpackung an die Innenseite eines aus Plastik bestehenden Suppentellers zu kleben. Schleßlich hatte ich ihn vollständig beklebt. Nun hieß es warten. Drei Tage lang brachte das Hamburger Wetter nichts als Regen, doch schließlich brach die Sonne hindurch. Gegen Mittag schien sie auch durch das kleine Fenster in meiner Zelle. Ich wartete auf den Moment, als das Essen verteilt wurde - zu dieser Zeit war nur ein Wärter im Zellentrakt anwesend. Ich nahm den beklebten Teller und hielt ihn so in die Sonne, dass er das Licht wie ein Hohlspiegel auf die zusammengeklebten Kaugummis unter der Liege reflektierte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich erhitzten. Langsam stieg Rauch auf. An einigen Stellen wurde der Kaugummihaufen dunkler und nahm das Sonnenlicht noch besser auf. Ich konzentrierte das Licht auf diese Stelle. Der Rauch wurde immer dichter und schließlich entzündete sich die Masse. Mit ein wenig Pusten griff die Flamme bald auf die Liege über, die mit starker Rauchentwicklung Feuer fing. Ich stellte mich in die Ecke, um mich vor den Rauchgasen zu schützen, die durch das Fenster abzogen, klopfte gegen die Tür und rief um Hilfe.

Eine Minute verging, vielleicht weniger. Der Wärter sah zunächst durch die Luke. Als er den Rauch bemerkte, schloss er die Tür auf und kam herein. Darauf hatte ich gewartet. Mit einem kräftigen Tritt gegen die Tür brachte ich ihm aus dem Gleichgewicht und nahm mit einem schnellen Griff seine Waffe aus dem Holster. Mit dem Griff der Waffe schlug ich ihn bewusstlos. Nun musste es schnell gehen, denn er hatte bereits Alarm ausgelöst. Ich nahm ihm die Schlüssel ab und eilte durch den Zellentrakt, auf der Suche nach einer ganz bestimmten Zelle und nach dem Mann, für den ich diese ganzen Strapazen auf mich genommen hatte. Nur um ihn hier zu finden, hatte ich mich der Polizei gestellt, denn ich wusste genau, dass man mich an der gleichen Stelle unterbringen würde. Schließlich hatte ich die Zelle gefunden. Ich schloss sie auf und öffnete die Tür.

Er war ein südländischer Typ, kräftig, aber von der Haft gezeichnet. Verblüfft sah er mich an. "Wer sind Sie?" fragte er mit italienischem Akzent. Ich lächelte ihn an. "Dein Boss schickt mich, Luciano." Auf sein Gesicht legte sich ein krampfhaftes, unsicheres Lächeln. "Giovanni? Oh, Mamma mia, ich wusste, er würde mich hier rausholen, bevor der Prozess gegen ihn..." - "Falsch gedacht." unterbrach ich ihn, richtete die Waffe auf seine Stirn und drückte ab. Anstatt dabei zuzusehen, wie sein lebloser Körper zusammensank, lief ich aus der Zelle, immer weiter den Gang entlang, bis zum einzigen Ausgang.

"Julian! Da bist du ja endlich!" rief meine Therapeutin, die mich schon erwartet hatte. Ich lief zu ihr und umarmte sie kurz. Mein Blick fiel auf die beiden Wachen, die regungslos auf ihren Stühlen saßen. "Was hast du denen gegeben, Denise?" fragte ich sie. Sie lächelte kühl. "Oh, nur etwas für 'frischen Atem' - die beiden haben doch wirklich geglaubt, sie bekommen meine Minzdragees..." Sie hauchte mich an und wir küssten uns leidenschaftlich. "Hast du den Wagen besorgt?" fragte ich schließlich. Denise winkte mit den Autoschlüsseln. "Alles genau so, wie du es mir gesagt hast..." Ich strahlte zufrieden. "Perfekt..." sagte ich und blickte in ihre feurigen, grünen Augen. "Geh schon mal vor, ich habe noch was zu erledigen, aber ich bin gleich bei dir." Denise nickte und gab mir einen weiteren Kuss. "Ich liebe dich..." hauchte sie in mein Ohr und lief los, in Richtung Fluchtwagen.

Ihre Liebeserklärung klang noch in meinen Ohren, als ich einem der beiden schlafenden Beamten die Waffe abnahm, sie in seine Hand legte, auf Denise zielte und ihr zwei Kugeln in den Rücken schoss. "Ich weiß..." sagte ich leise vor mich hin. Sie stürzte und fiel zu Boden. Schnell lief ich zu ihr. "Ich habe dir doch gesagt... Gleich bin ich bei dir..." flüsterte ich ihr zu, als sie ihren letzten Atemzug tat. Ich wischte die Waffe, die ich dem Wärter in meiner Zelle abgenommen hatte, gründlich ab, legte sie in ihre Hand und feuerte einen Schuss in die Luft ab, damit es so aussah, als hätte es einen Schusswechsel mit den Wachbeamten gegeben. Dann nahm ich ihr den Autoschlüssel ab und lief zum Wagen. Auf dem Beifahrersitz lag ein Prepaid-Handy, genau wie abgesprochen. Ich wählte die erste gespeicherte Nummer. "Giovanni? Der Job ist erledigt." sagte ich und hörte, wie eine rauchige Stimme am anderen Ende mir gratulierte. Unterwegs warf ich das Handy aus dem Fenster, direkt in die Elbe. "Was für ein Tag..." sagte ich noch vor mich hin, drehte das Radio auf und gab Gas.