Es war schon dunkel, aber immer noch sommerlich warm, als July und ich meine Wohnung erreichten. Es war ihr erster Besuch bei mir und sie hatte sich nicht davon abbringen lassen, den ganzen Tag lang die Stadt zu besichtigen und sich von mir herumführen zu lassen. Diesen Wunsch hatte ich mit großem Vergnügen erfüllt. Doch irgendwann muss auch der schönste Tag einmal enden - und so öffnete ich die Wohnungstür und ging mit July hinein.
"Magst du noch eine Tasse Tee?" fragte ich sie, schon halb auf dem Weg in die Küche. "Ja, gern." antwortete sie und sah sich um. "Wirklich schön hier..." stelle July staunend fest. Ich lächelte. "Du kannst gerne öfter zu Besuch kommen." rief ich ihr aus der Küche zu, während ich zwei Tassen herauskramte und den Tee aufgoss. Ich stellte sie auf ein Tablett und ging zu July, die sich inzwischen im Wohnzimmer umsah und durch die große Glaswand in den Nachthimmel blickte. Dankend nahm sie mir eine Tasse ab. "Das mache ich gerne." sagte sie mit einem Lächeln. "Die Aussicht hier ist toll!" Ich trank etwas Tee und sah mit ihr nach draußen. "Die Hochspannungsleitung stört ein wenig..." stellte ich fest, doch July gefiel die Aussicht trotzdem - und der Blick in die Sterne. Ich lächelte. "Wenn du einen wirklich schönen Blick auf den Sternenhimmel möchtest, weiß ich aber noch einen schöneren Platz..." sagte ich gedankenversunken. July sah mich an. "Eigentlich bin ich noch gar nicht müde..." sagte sie leise und mit leicht erwartungsvollem Blick. "Ich auch nicht..." antwortete ich und stellte meine Tasse aufs Tablett. "Darf ich bitten...?" fragte ich und bot July meinen Arm an. Sie schmunzelte, hakte sich unter und wir machten uns auf den Weg.
Wir gingen durch die kleine Unterführung aus meinem Wohnblock heraus und dann rechts die Straße entlang. Es waren kaum Menschen unterwegs - nur ein Autofahrer suchte verzweifelt nach einem Parkplatz. Nicht weit von meiner Wohnung entfernt gingen wir einen schmalen, asphaltierten Weg entlang, vorbei an einer Schule, der uns direkt in eine Schrebergartenkolonie führte. Etwas skeptisch sah July mich an. "Bist du sicher, dass wir hier richtig sind...?" fragte sie ein wenig unsicher und hielt sich an mir fest. Ich nickte. "Ja, ich kenne den Weg." antwortete ich mit ruhiger Stimme. Ich nahm eine Taschenlampe heraus, denn die Kieswege, die zwischen den Schrebergärten hindurch führten, waren nicht beleuchtet. Nur in einem Garten leuchtete Licht und es waren Musik und Stimmen zu hören, und es roch nach gegrilltem Fleisch und Würsten. Der Weg führte um ein paar Ecken, vorbei an einem kleinen Teich und einem Spielplatz, bis wir schließlich eine Wiese und ein etwas größeres Gewässer erreicht hatten. "Hier beginnt der Bramfelder See." erklärte ich July, während wir eine kleine Pause machten. "Er ist nicht besonders groß und man kann ihn leicht umrunden - und vom anderen Ende aus hat man eine wunderschöne Aussicht auf die Siedlung und die Sterne." July lächelte. "Na dann nichts wie hin!" sagte sie und zog mich leicht mit sich. Das ließ ich mir kein zweites Mal sagen und machte mich mit ihr auf den Weg.
Der Weg führte nicht direkt am Seeufer entlang, sondern ein paar Meter abseits davon zwischen Bäumen hindurch. Durch die Bäume war es hier noch dunkler und July blieb dicht an meiner Seite. Als wir eine Weile gegangen waren, wurden die Bäume lichter und der Weg näherte sich dem Ufer an. Schließlich kamen wir ganz aus dem kleinen Waldstück heraus und fanden uns zwischen dem See und einer Wiese wieder. Hier war es auch nicht mehr so dunkel, denn der Vollmond tauchte den Weg in ein silbriges Licht. Ich schaltete die Taschenlampe aus und suchte mir mit July einen schönen Platz, von wo aus wir auf den See und die Sterne blicken konnte. Verträumt sah July in Richtung Ufer. Im Wasser spiegelten sich die Lichter der Straßenlaternen und der Häuser auf der anderen Uferseite. Auch der Mond spiegelte sich im Wasser und verlieh ihm ein fast mystisches Glitzern. "Wunderschön..." sagte July leise. Ich lächelte und sah zu den Sternen, die lautlos am Himmel funkelten.
"Hey, Chicka!" sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter uns. "Na, heute schon was vor?" Wir beide sprangen auf und drehten uns um. Instinktiv stellte ich mich vor July und bedeutete ihr, hinter mir zu bleiben. "Verschwinde!" entgegnete ich und sah mir den Halbstarken etwas genauer an, der uns aufgeschreckt hatte. Er sah aus wie ein Macho aus dem Bilderbuch - braungebrannter, durchtrainierter Körper, Goldkettchen, teure Uhr und teure Schuhe. Genau die Sorte von Mensch, denen man abends lieber nicht begegnet. "Ey Alter, ich red mit der Lady und nicht mit dir, Spacko!" sagte er und wollte sich gerade an mir vorbeidrängen, doch ich versperrte ihm den Weg und stellte mich zwischen ihn und July. Er versuchte, mich zur Seite zu schubsen, doch es gelang ihm nicht. Stattdessen stieß ich ihn ein Stück zurück. "Ich sag es dir noch mal: Verschwinde!" wiederholte ich, diesmal etwas lauter. Doch er dachte nicht daran. "Willst du Stress, Alter?" fragte er und stürmte auf mich zu. Ich sprang ihm entgegen. Als wir zusammenstießen, spürte ich, wie sich kalter Stahl in meinen Bauch bohrte. Ein stechender Schmerz durchzog meinen Körper. Ich verdrängte ihn und konzentrierte mich einzig und allein auf meinen Gegner - und darauf, July zu beschützen. Statt seinen Hieb abzuwehren, hielt ich seinen Kopf fest und drehte ihn schnell herum. Es knackte laut. Dann fiel er zu Boden.
July kam auf mich zugelaufen. "Ist alles in Ordnung? Ist dir was passiert?" rief sie panisch. Schnell zog ich das Messer aus meinem Bauch und warf es weg, damit sie nichts davon merkte. "Es geht schon..." antwortete ich und versuchte, den Schmerz von meiner Stimme fernzuhalten. Ich presste meine Hand auf die Wunde, in der Hoffnung, die Blutung damit zu stillen. July merkte, dass ich Schmerzen hatte. "Brauchst du einen Arzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?" fragte sie ängstlich. Doch ich winkte ab. "Nein nein, das wird schon wieder..." antwortete ich beschwichtigend. "Ich muss mich nur ein wenig erholen, das ist alles..." July versuchte, mich zu stützen. Plötzlich bemerkte sie das viele Blut an meiner Hand. "Du blutest ja!" rief sie und half mir, mich zu setzen. Sie kramte ihr Handy heraus, um einen Notarzt zu rufen. "Nein..." sagte ich mit schwacher Stimme. "Keinen Arzt... Bitte, geh..." Verständnislos sah July mich an. "Aber... Du verblutest sonst... Ich lass dich nicht hier..." Ich schüttelte den Kopf. "July, bitte, geh!" wiederholte ich etwas eindringlicher. July kniete sich neben mich. "Niemals..." sagte sie leise.
Länger konnte ich meine Überlebensinstinkte nicht zurückhalten. Ich roch Julys Blut und so sehr ich es auch versuchte, könnte ich meinen Körper nicht davon abhalten, sich zu holen, wonach es ihm verlangte. Ich stürzte auf July zu und schlug meine spitzen Zähne in ihren Hals. Sie erschrak, doch sie wehrte sich nicht, denn sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Ich wehrte mich innerlich dagegen, doch mein Instinkt war zu stark. Mit aller Kraft versuchte mein Körper, am Leben zu bleiben, auch wenn er dafür einem Menschen das Leben nehmen musste. Viel zu viel Blut hatte ich schon verloren und ich wusste, dass Julys Blut das einzige war, das mich am Leben halten würde. Ich wollte aufhören, doch ein innerer Drang trieb mich dazu, immer mehr von ihrem Blut zu trinken. Niemals zuvor hatte ich diesen Durst so sehr gespürt wie in dieser Nacht. Ich konnte spüren, wie Julys Herz schwächer schlug und ihr Körper immer kraftloser wurde, doch so sehr ich es auch wollte, konnte ich dennoch nicht von ihr ablassen. Erst als ihr Herz kaum noch schlug und ich meinen Durst gestillt hatte, ließ ich sie los. Ich wusste, dass sie es nicht überleben würde - nicht als Mensch. Nur noch ein letzter, verzweifelter Schritt konnte ihr Leben retten. Ich hielt meine Hand, die von meinem Blut bedeckt war, über ihren Mund und gab ihr ein paar Tropfen davon zu trinken. Ich wusste nicht, ob es funktionieren würde, doch es war die einzige Chance. Sie rührte sich nicht. Erschöpft sank ich neben ihrem leblosen Körper ins Gras.
Es war kurz vor Sonnenaufgang, als das Zwitschern der Vögel mich aufweckte. Ich öffnete meine Augen und versuchte, mich aufzusetzen. Es schmerzte noch etwas, aber die Blutung hatte aufgehört und die Wunde in meinem Bauch war schon wieder so gut wie verheilt. Ich blickte zu July, die immer noch regungslos im Gras lag. Vorsichtig nahm ich ihre Hand und streichelte sie leicht, doch sie rührte sich nicht. "July..." weinte ich leise, beugte mich über sie und streichelte ihre Wange. "Was hab ich nur getan...?" Langsam öffnete July ihre Augen. "Mich gebissen...?" fragte sie mit schwacher Stimme. Überglücklich sah ich sie an. "July... Du lebst..." Ich half ihr dabei, sich hinzusetzen. "Was ist denn passiert...?" fragte sie, immer noch etwas schwach. Langsam und ruhig erzählte ich ihr, was geschehen war. July schluckte. "Dann bist du also... dann sind wir..." Ich nickte und hielt Julys Hand. "Du bist jetzt ein Engel July, genau wie ich... Wir sind Engel der Nacht."