Das geheime Zimmer

July ging durch die Straßen der vorstädtischen Wohnsiedlung. Sie kramte den Zettel mit der Wegbeschreibung heraus, den sie sich am Vortag ausgedruckt hatte. Es war gar nicht mal so einfach, sich in dem Gewirr von Häusern und Straßen zurecht zu finden, zumal die Amerikaner ein anderes Hausnummernsystem verwenden und Straßenschilder auch nicht überall zu finden sind. Mehr als einmal verpasste sie die richtige Seitenstraße. Doch nach einer halben Stunde stand sie schließlich vor der Adresse, die sie gesucht hatte: 1337 Einstein Parkway. Es war ein ziemlich großes Haus, größer als sie es erwartet hatte. Zwei Marmorsäulen zierten den Eingang. Der Weg dorthin war von Solarleuchten eingerahmt und führte durch einen kleinen Vorgarten, in dem ein Springbrunnen stand. July war so erstaunt, dass sie gar nicht bemerkte, wie jemand die Tür öffnete, um sie zu empfangen.

"July!" rief der Professor, dem das Haus gehörte. "Da bist du ja! Wie geht's dir? Hattest du einen guten Flug?" July lief freudestrahlend auf ihn zu und umarmte ihn. "Mir geht's super, und der Flug war toll!" antwortete sie freudig. "Und wie geht's dir? Gehört das hier alles dir...?" fragte sie und deutete auf das große Haus und den Vorgarten. Der Professor nickte. "Ja, das ist mein kleines, bescheidenes Reich... Die Immobilienpreise sind hier nicht besonders hoch." July zwinkerte ihm zu. "Aber dein Professorengehalt um so mehr, oder?" Der Professor lachte. "Naja, schlecht bezahlt werde ich nicht. Komm rein, dann zeige ich dir den Rest des Hauses." Begeistert stimmte July zu und folgte ihm durch die Eingangstür.

Der Weg führte in ein großes Wohnzimmer, in dem ein sehr bequem anmutendes Sofa stand, das July sogleich ausprobierte. "Das ist toll!" sagte sie begeistert und sah sich um. An den Wänden hingen Porträts von berühmten Physikern, überwiegend von Nobelpreisträgern. Dem Sofa gegenüber stand ein großes Plasmafernseher. Auf der rechten Seite war ein großes Fenster, durch das man in den Vorgarten sehen konnte. Zu ihrer linken fand July einen offenen Kamin. Sie kam aus dem Staunen kaum heraus. "Wahnsinn... Sowas hab ich mir immer gewünscht..." Der Professor lächelte zufrieden. "Freut mich, dass es dir gefällt. Magst du was trinken? Ich hab was ganz besonderes da." Neugierig sah July ihn an. "Was denn...?" fragte sie etwas unsicher. Der Professor verschwand für einen Augenblick in Richtung Küche. Als er nach ein paar Minuten noch nicht zurück war, folgte ihm July. Sie fand sich in einer großen, einladenden Küche mit einer Kochinsel in der Mitte wieder. "Du kommst genau richtig." sagte der Professor, der zwei Gläser mit einer hellroten, sprudelnden Flüssigkeit, Spiralstrohhalmen und Schirmchen in der Hand hielt. "Cranberry Juice und 7-Up, natürlich auf Eis!" Vorsichtig probierte July davon - es war nicht zu süß, dafür aber sehr erfrischend. "Lecker!" stellte sie fest und lächelte.

"Was soll ich dir als nächstes zeigen?" fragte sie der Professor und trank noch einen Schluck. July überlegte kurz. "Hm... das Bad?" Der Professor nickte und lächelte. "Gerne, komm mit." Er führte sie in ein geräumiges Bad, dessen Wände mit weißen Kacheln bedeckt waren, auf denen ab und zu einige Formelzeichen standen. July kicherte. "Ein richtiges Physikerbad!" Sie öffnete die Schiebetür und warf einen Blick in die Dusche, in der locker zwei Personen Platz hätten - genau wie in der großen Badewanne, die eigentlich mehr ein Whirlpool war. Sie war so fasziniert, dass sie gar nicht wusste, was sie sagen sollte. Es gab sogar ein Radio, das in die Wand integriert war, um beim Duschen oder Baden Musik hören zu können. "Das find ich klasse!" sagte sie und probierte ein wenig damit herum. Der Professor lächelte sie an. "Du kannst ja heute Abend alles ausprobieren, wenn du möchtest." Freudestrahlend stimmte July zu. "Und dann geht's ins Bett! Ach ja, wo ist denn das Schlafzimmer?" - "Komm, ich zeig's dir." antwortete der Professor und nahm Julys Hand.

Auch diesmal kam July aus dem Staunen kaum heraus. Das Schlafzimmer war hell und einladend. In der Mitte stand ein großes Wasserbett, in dem man sich fast hätte verirren können. Eine gläserne Schiebetür führte hinaus in den Garten, in dem ein paar Liegestühle und ein Sonnenschirm standen. July war anfangs ein wenig überrascht, keinen einzigen Schrank zu finden, doch dann bemerkte sie die Tür zum Wandschrank, die von zwei Engelsstatuen mit schwarzen Flügeln eingerahmt war. "Wow... Das ist ja toll..." sagte July und sah sich die beiden schwarzen Engel an. "Die sind wirklich schön!" - "Die habe ich extra anfertigen lassen - zwei Engel, die zusammengehören..." sagte der Professor. July lächelte. "Aber eigentlich müssten sich die beiden ansehen... Wenn sie doch zusammengehören..." stellte July fest. Der Professor zwinkerte ihr zu. "Stimmt, du hast Recht. Weißt du was? Du drehst den rechten Engel ein Stück, ich drehe den linken. Und dann sehen sich die beiden an." Freudig stimmte July zu und begann vorsichtig, den einen Engel zu drehen. Gleichzeitig drehte der Professor den anderen Engel.

In dem Moment, als sie beiden Engel sich in die Augen sahen, öffnete sich die Tür des Wandschranks. Der hintere Teil des Schranks teilte sich und öffnete damit den Weg zu einem Gang, der nach unten führte und aus dem ein violettes Leuchten drang. Sprachlos ging July ein Stück in den Schrank und blickte hinein. "Wohin geht's da...?" fragte sie schließlich. "Sieh doch nach." antwortete der Professor mit einem Lächeln. "Aber ich glaube, du kennst diesen Ort schon..." Langsam folgte July dem Gang in die Tiefe, bis sie einen violetten, durchscheinenden Vorhang erreicht hatte. Vorsichtig ging sie hindurch und fand sich direkt vor einem großen, unterirdischen Swimmingpool wieder, der von unten in ein hellblaues Licht getaucht wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes war ein Wasserfall, der in violettem Licht erstrahlte und sich in den Pool ergoss. Mit funkelnden Augen sah July sich um. "Wahnsinn... Sowas hab ich mir immer gewünscht..." - "Ich weiß..." sagte der Professor und ging um den Pool herum. "Das alles habe ich nach deiner Beschreibung entworfen... Und bauen lassen, als ich endlich die Gelegenheit dazu hatte." July ging ebenfalls um den Pool herum und bemerkte, dass sich hinter dem Wasserfall ein Durchgang befand, durch den man hindurchschwimmen konnte - oder auch gehen, wenn man dicht an der Wand blieb. Langsam folgte July dem Weg.

Hinter dem Wasserfall befand sich ein Zimmer, das ganz in ein violettes Schimmern getaucht war. Als July hineinging, entflammten ein paar schwarze und violette Kerzen, die in den Ecken des Zimmers standen. Von innen betrachtet wirkte der Wasserfall wie der Ausgang aus einer steinernen Höhle, der von Farnen und Moosen umgeben war. Grünpflanzen zierten die Wände und ein frischer Geruch lag in der Luft. In der Mitte des Zimmers stand ein großes Bett, das mit violettem Satin bezogen war. Vorsichtig legte July die Hand darauf - es war ganz weich. Auf jeder Seite stand ein Nachttisch, und auf dem Nachttisch zur rechten lag ein Buch. July sah es sich an. "Gedichte und Gute-Nacht-Geschichten für schwarze Engel" stand darauf. Sie lächelte und schlug es auf. "Schwarzer Engel..." begann sie zu lesen. Sie schloss für einen Moment die Augen. Dann blickte die an die Zimmerdecke, an der ein künstlicher Sternenhimmel funkelte.

"Gefällt es dir...?" fragte sie der Professor. July nickte. "Ja, sehr... Genau so habe ich es mir erträumt... Hast du das Buch geschrieben...?" - "Ja, das habe ich." antwortete der Professor. "Ich habe auch diesen Raum gestaltet, so wie du ihn mir beschrieben hast... Ich hatte gehofft, dass es dir gefallen würde... Schließlich soll er das alles hier eines Tages dir gehören, wenn ich nicht mehr hier wohne." Etwas ungläubig sah July ihn an. "Du willst hier wegziehen? Und mir alles schenken???" Der Professor nickte. "Du kennst mich doch, ich bin ständig auf Achse... Außerdem wärs doch schade um das schöne Haus, wenn hier jemand anders wohne würde, als ein schwarzer Engel...?" sagte er mit einem Augenzwinkern. July wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Überschwenglich umarmte sie den Professor. "Danke, danke!" rief sie und bekam sich gar nicht mehr ein. Sie bemerkte gar nicht, dass der Professor immer schwerer atmete. "Ist alles in Ordnung...?" fragte sie ihn, als sie sich wieder beruhigt hatte. Der Professor fasste sich an die Brust. "Mein... mein Herz..." sagte er mit schmerzverzerrter Stimme. Er stürzte, versuchte sich noch, an der Wand abzustützen, doch er erwischte nur den Kerzenständer, der nachgab und aufs Bett fiel. "Nein, nein, du darfst nicht sterben!" rief July verzweifelt und versuchte, ihn wiederzubeleben. Sie merkte gar nicht, dass das Bett hinter ihr schon in Flammen stand. Verzweifelt versuchte sie es weiter. Sie weinte. Beißender Rauch füllte ihre Lungen und sie spürte, wie ihr Körper immer schwerer wurde. "Nein... Bitte komm zurück..." weinte sie, als die Kräfte sie verließen und sie schließlich zu Boden sank.

July spürte, wie jemand ihren Arm berührte und sie aufweckte. Langsam öffnete sie die Augen. "Bitte stellen Sie Ihre Rückenlehne aufrecht, wir landen in Kürze." sagte eine blonde Stewardess. Etwas irritiert sah July sie an. Dann blickte sie auf das Buch, das noch immer aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag und dass ihr bester Freund für sie geschrieben hatte - jener Professor, zu dem sie gerade auf dem Weg war. "Ja... Klar..." sagte sie, als ihr langsam klar wurde, dass sie nur einen Albtraum gehabt hatte. Sie stellte die Rückenlehne hoch und warf einen Blick aus dem Fenster. Dann blickte sie wieder auf das Buch, und las ein Stück weiter - bis sie sich sicher war, dass auch diese Geschichte ein Happy End hat...